Sechs Wochen, zweiundvierzig Tage, waren sie schon unterwegs auf den
unendlich verbundenen, tausenden Seen der Finn. Stoga schien keine Eile
zu haben ihr Ziel zu erreichen. Puh wie sie Puhuu Jumala jetzt nannten,
seit Stoga brüsk ausdrückte, dass ihr der alte Name zu lang sei und sie
ihn ab sofort zu Puh verkürzte. Puh also, hatte sich gut von seinem
Zusammenstoß mit dem Elch erholt, die Platzwunde war verheilt und hatte
nur eine kleine rote Narbe auf seiner Stirn hinterlassen. Er sprach
nicht viel aber verstand definitiv schon Stogas Sprache Inglis, denn er
befolgte ihre Anweisungen ohne Zögern, wenn sie ihn darum bat.
Offensichtlich passte er genau auf wenn Stoga ihre Talaboa ausbildete
und lernte eifrig mit. Jeden Abend bevor sie sich schlafen legten, las
Stoga aus der Yamut vor. Es klang so anders als Stoga mit ihnen sprach,
einige Worte waren ihr völlig unbekannt aber den Sinn und den
Zusammenhang konnte sie gut erfassen. Baba kam überhaupt sehr gut
zurecht mit der neuen Sprache und fragte die sonst eher schweigsame
Stoga Löcher in den Bauch die das aber keinesfalls zu stören schien.
„Stoga?"
„Ja Baba."
„Wie heißt der Ort von die Anlegestelle?"
„Der Ort heißt Ussi-Kau-Punki und eigentlich ist es eine Fabrik für Düngemittel aus der Vorzeit."
„Stoga?"
„Baba, du musst deine Fragen nicht ankündigen, frag einfach frei heraus."
„Okay. Äh. Was ist Dongemitta?"
„Dü-nge-mi-ttel. Wenn man Pflanzen wachsen lässt um sie später zu essen, dann gibt man Dü-nge-mi-ttel dazu, dann wachsen sie besser und geben mehr Früchte."
„Stoga? Warum ist Düngemitta Fabrik gute Anlegestelle?"
„Ussi-Kau-Punki liegt direkt am Meer und hat einen eigenen Hafen der in der Vorzeit gebaut wurde. Es gibt dort riesige Dieseltanks. Bevor du fragst, Diesel ist eine besondere Flüssigkeit die Energie macht mit der das Schiff fahren kann. Alle Anlegestellen haben solche Tanks die über hunderte von Jahren aufgetankt worden sind. Damit ist garantiert, dass die Schiffsrouten der Rasu funktionieren. Die gesamte Hafenanlage wurde immer wieder erneuert und instandgesetzt."
„Stoga, was ist instan gesetzt?"
„Reparieren. Alles wird immer neu gemacht, repariert, instandgesetzt."
Baba nickte immer um Stoga zu zeigen, dass sie jetzt den Zusammenhang verstehen konnte.
„Außerdem gibt es dort zwei Windräder aus der alten Zeit die immer noch Strom liefern. Okay, okay, schau mich nicht so fragend an. Also Windräder sind Balken so hoch wie Bäume. Ganz oben befestigt drehen sich drei Flügel im Wind. Das erzeugt Energie, Strom, warte!"
Stoga kramte in einer der Taschen und fischte eine kleine Taschenlampe heraus, drehte das Batteriefach auf und hielt kurz darauf die Batterie in der Hand.
„Hier drin ist Strom. Siehst du? Wenn der Strom nicht in der Lampe ist dann kann ich das Licht nicht einschalten."
Demonstrativ klickte sie den Schalter hin und her. Dann legte sie die Batterie ein, schraubte zu und klickte den Schalter wieder ein und das Licht der Lampe erstrahlte die Umgebung.
„Ich zeige dir genau wie es funktioniert, wenn wir in Ussi-Kau-Punki sind."
„Stoga? Wann wir sind in Ussi-Kau-Punki? Und...und wann kommt die Schiff?"
„Oh das Schiff kommt noch lange nicht, erst am Anfang des nächsten Sommers. Wir gehen nach Ussi-Kau-Punki sobald der Winter einbricht, denn dann ist es dort gemütlicher."
„Stoga? Warum nicht jetzt schon?"
„Weil du meine Talaboa bist. Du musst lernen wie man jagt, wie man in dieser Wildnis überlebt. Es gibt noch das Gebiet der Sibir im Osten, in Asia. Weiter im Osten sind die Mongol...warte."
Stoga holte das faltbare Solarpanel aus der Kiste mit dem Geheimschloss und stöpselte den kleinen Computer an. Der Computer war ungefähr so groß wie eine Männerhand, rechteckig, aus Metall und hauptsächlich schwarzem Glas. Indem sie kurz mit dem Finger auf dem Glas herumtippte ließ Stoga eine Karte erscheinen. Eine Karte, so wusste Baba inzwischen, zeigte die Welt so als ob Baba wie ein Vogel ganz weit hoch in die Luft fliegen würde und alles unter sich in klein sehen könnte. Die Form des Sees an dem sie gerade lagerten, den ganzen Wald der da hinten begann bis dorthin wo er aufhörte. Und wenn sie noch höher kommt würde sie auch die großen Wasser sehen die zwischen dem Land waren. Was Stoga jetzt zeigte war alles Land und alles Wasser auf der Erde.
„Schau. Hier sind wir jetzt gerade. Etwas höher, hier ungefähr ist euer Dorf. Hier überall sind die Stämme der Finn und Nor. Weiter im Osten sind die Sibir Stämme. Ganz hier hinten die Mongol und wenn man hier über die Meerenge geht trifft man die Alas. Und hier weiter die Ennuit."
Baba umkreiste mit dem Finger den größten Teil der Karte und fragte: „Und welche Stamm lebt hier?"
„Kein einziger Stamm lebt hier. Alle Stämme glauben, dass südlich von dieser roten Linie hier das Land von Dämonen oder Shaytan oder Dschinn beherrscht wird und deshalb für sie tabu und unbewohnbar ist. Nur die Bao leben hier. Und zwar genau hier."
Stogas Finger zeigte ungefähr in die Mitte der Karte wo alles Land eine blassgelbe Farbe hatte.
„Mekka!", sagte Baba ehrfürchtig, „Die Stadt in der nur Bao leben."
„Und hier ganz unten?" Baba zeigte auf die wenigen Landmassen unterhalb der südlichen roten Linie.
„Hier, hinter diesen sehr hohe Bergen, den Anden leben die Peru. Hier ganz unten gibt es nur Schnee und Eis, wenig Tiere und deshalb auch keine Menschen und hier drüben, dieses Land wird Seeland genannt und die Stämme nennen sich Samoa. Diese Samoa Stämme sind übrigens auch auf vielen Inseln hier in diesem großen Meer, genannt Pazifik, anzutreffen."
Baba gingen jetzt die Fragen aus und sie musste nachdenken. Aus mehreren solcher Frage-Antwort Runden hatte sie jetzt verstanden, dass es irgendwann vor langer, langer Zeit die alte Welt gab und dass es eine große Katastrophe gab von den Menschen selbst ausgelöst. Was genau nuklear bedeutete konnte sie nicht sagen aber jedenfalls starben ganz viele Menschen sofort und noch mehr wenig später weil sie damals innerhalb der roten Linien lebten. Man konnte dort auch nicht hingehen, weil man sonst starb. Weil die Menschen schnell vergessen hatten warum man an diesem nuklearen Dings starb erklärten sie sich das mit Dämonen. Nur ganz oben und ganz unten hinter der roten Linie gab es kein Nuklear oder wie die Menschen glaubten, keine Dämonen. Aber das mit Abstand erstaunlichste war, dass die Menschen in der alten Zeit alle so aussahen wie die Bao. Alle hatten zehn Finger, zehn Zehen, zwei Beine und zwei Arme und keine Flecken oder Male auf der Haut. Stoga sagte das seien alles die Nachwirkungen von diesem Nuklear.
„Stoga?"
„Ja, Baba? Frag einfach."
„Warum haben die Bao keine Nachwirkung von diesem Nuklear?"
„Keine stimmt nicht ganz. Es sind nur weniger. Auch viele Bao sind anfangs gestorben. Durch einen genetischen Vorteil konnten die Bao eine besonders hohe Konzentration des Antioxidans Glutathion im Blut halten, das negative Effekte der Strahlung ausgleichen konnte. Der Stoff kann bestimmte hochreaktive Moleküle, die unter Strahlungseinfluss vermehrt entstehen, entschärfen. Dadurch vererbten die Bao weit weniger Schäden im Erbgut und hatten deshalb über mehrere Generationen so gut wie keine Mutationen oder andere Zeichen der Strahlenkrankheit."
Baba verstand nicht alle Worte und ab einer gewissen Anhäufung neuer Worte verzichtete sie auf weitere Nachfragen. Aber die Aussage war verständlich für sie. Irgendetwas im Blut der Bao führte dazu, dass dieses Nuklear nicht so schlimm war.
„Stoga? Warum hassen die Stämme Menschen uns Bao Menschen?"
„Manche Stämme wie die Mongol oder die Alas sagen offen, dass die Male und Fehlbildungen die Zeichen der Ehre sind. Sie sagen die Bao sind Verräter an ihren Ahnen, weil die Bao nicht geholfen haben nach der Katastrophe zu helfen. Die Bao hätten sich versteckt wie Feiglinge oder wenden Zauberkraft an und sind deshalb so unberührt."
„Und? Könnte das nicht stimmen?"
„Nein Talaboa. Das stimmt nicht."
Immer wenn Stoga den Titel Talaboa in einen Satz einbaute, so wusste Baba, war das so was wie eine offizielle Aussage, wichtig für die Ausbildung zur Rasu. Das ließ Baba innerlich jubeln. Wenn sie es richtig verstanden hatte dann würde sie jetzt so lange an Stogas Seite sein bis sie alles gelernt hatte was Stoga wusste. Sie würde dann genauso stark und überlegen, so klug und so reich sein wie Stoga jetzt. Unfassbar.
„Hör genau zu, Talaboa. Es gibt viele Dinge die die Stämme nicht erklären können. Warum ihre Ahnen starben, wenn sie Wasser tranken, Pilze aßen, zu weit in den Süden gingen. Sie wußten nichts von der nuklearen Katastrophe also brauchten sie eine andere Erklärung aber fanden keine. Und für all die vielen Dinge für die sie keine logische Erklärung fanden wurde entweder ein Gott, oder ein Dämon oder Zauberei verantwortlich gemacht."
„Aber Rasu.", antwortete Baba ebenfalls in offizieller Art, „Wie konnten die Menschen eine solche Katastrophe vergessen?"
„Hmm, eine gute Frage. Du kannst dir die erste Zeit genau so wenig vorstellen wie ich selbst. Aber denke nur an die Situation kurz danach. Es gab keine Sonne und kein Mond am Himmel dort wo die Stämme heute leben. Nur eine Wolke aus Staub. Die Pflanzen konnten nicht ausreichend wachsen und die Menschen mussten Wurzeln und Nüsse und Würmer, Käfer und Spinnen essen. Doch alles war verseucht. Nicht so stark wie in den Gebieten jenseits der roten Linien, aber immer noch so stark, dass die Menschen nur mit großen Schmerzen gerade mal so alt wurden um ein Baby zu bekommen. Diese Menschen hatten keine Lust und keine Zeit sich irgendwelche Gedanken über Bao zu machen. Jeder sah nach sich selbst, lebte kurz und schmerzvoll, die Kinder die sie gebaren waren oft entstellt von den nuklearen Auswirkungen. So wurden die Fehlbildungen weitervererbt."
„Aber die Bao..."
„Geduld Talaboa. Von damals bis heute sind 1964 Jahre vergangen. Was die Menschen damals tötete, dieses Nuklear wie du es nennst, heißt eigentlich Cäsium137. Durch die Katastrophe und die große Staubwolke wurde dieses Cäsium137 überall verteilt und wenn die Menschen es über die Ernährung in ihre Körper brachten dann fraß es sie von innen auf. Cäsium137 hat eine Halbwertzeit von ca. 30 Jahren. Halbwertzeit bedeutet, dass die Menge sich in dieser Zeit halbiert. Wenn also hier auf diesem Grashalm zwanzig Cäsium137 heute sind dann sind in 30 Jahren nur noch zehn übrig, in 60 Jahren nur noch fünf, und so weiter. Nach mittlerweile 65 Halbwertzyklen ist die Cäsium137 Belastung weltweit wieder auf einem Normalwert."
„Man kann also jetzt wieder alles essen und trinken und man wird nicht krank?"
„Gut aufgepasst, Talaboa. Das Wort Bao in der Chinn Sprache, oder auch Tendua in der Hindi Sprache, bedeutet Panther. So werden alle Menschen wie wir bezeichnet, leicht dunkle Haut, schwarzes, dickes Haar und helle Augen, oftmals gelb oder grün. Katzenaugen."
Unwillkürlich musterte Baba ihre Rasu. Sie trug die schwarzen Haare in drei Linien über die Kopfhaut geflochten und hinten wo die Haare länger waren zu einem einzigen Zopf vereinigt. Ihre kantigen Wangenknochen gaben ihrem Gesicht einen harten Ausdruck der durch dichte schwarze Augenbrauen unterstützt wurde. Den Kontrast bildeten eine kleine niedliche Nase, volle Lippen und natürlich diese bernsteingelben Augen, stechend wie Blitze. Seit kurzer Zeit wusste Baba auch wie sie selbst aussah, dank dieses Spiegeldings. Ihre Augen waren hellblau. Das sei ganz selten bei den Mekkanern aber es kommt schon vor. Stoga unterschied genau. Die Bao Menschen bei den Stämmen nannte sie Bao oder Tendua aber die Bao die nicht bei den Stämmen lebten waren Mekkaner. Sie, Baba, war jetzt also eine Mekkanerin. Nach der Stadt Mekka benannt, dem Zufluchtsort aller Bao.
„Aber...aber nochmal zurück. Die Stämme sagen die Bao haben sich versteckt und sind Feiglinge."
„Ja, worauf willst du hinaus."
„Mekka. Ist das nicht ein Versteck?"
„Sicher, aber es entstand viel später. Mekka wurde erst zum Versteck nachdem die Stämme die Bao des Verrats beschuldigten und sogar verfolgten und mit dem Tode bedrohten."
„Und warum Mekka?"
„Das habe ich doch schon vorgelesen aus der Yamut. Erinnerst du dich nicht?"
„Doch, aber nur, dass Smafo mit den 42 Talaboa nach Mekka ging aber nicht warum ausgerechnet Mekka. War das nicht die Stadt mit der ersten bösen Bombe? Warum dort?"
„Mekka war schon in der Vorzeit eine sehr alte Stadt mit diesem Namen. Es war ein wichtiges religiöses Zentrum gewesen und das nur wegen einem Stern der vom Himmel genau dort auf die Erde gefallen war."
Baba staunte. Ein Stern der auf die Erde fiel? Sie kannte die Sterne am Nachthimmel aber laut Stoga war der in Mekka jetzt ein schwarzer glatter Stein.
„Das Mekka der Vorzeit war deshalb auch ein Ort zu dem alle Gläubigen hin wanderten um zu beten. Nach der nuklearen Katastrophe lebte dort aber niemand mehr und es kam auch niemand mehr um zu beten."
„Nur Smafo."
„Genau. Aber nicht um zu beten, sondern weil er wusste, an diesen Ort würde sich ganz sicher kein Händler verirren. In Smafos Familie wurde sowohl der Glaube als auch die alten Geschichten des Krieges der zur Katastrophe führte immer weitererzählt. Diese Familie lebte als Nomadenstamm in einer Wüstenregion und waren schon immer gewohnt dem kargen Leben zu trotzen. Smafo, der damals noch Abdul hieß wollte nicht sein ganzes Leben in der Wüste verbringen und von reisenden Händlern hatte er von weit entfernt lebenden Stämmen erfahren. Es zog ihn mit aller Macht in die Ferne. Den Rest kennst du aus der Yamut, oder?"
Baba schaute zu Puh. Er war so schweigsam. Aber es schien ihm gut zu gehen. Sie spürte keine Wut und keinen Hass bei ihm, nur stille, schweigende Neugier. Was mochte er wohl denken und wieviel verstand er wohl von ihrem Inglis Geschwafel? Sein Respekt vor Stoga war jedenfalls riesengroß und ging immer wieder in Angst und Panik über. Ziemlich oft dachte Baba, dass er wohl gleich weglaufen würde doch irgendwie bekam er sich sofort wieder in den Griff. Stoga zwang ihn aber auch nicht dazu etwas zu machen was er nicht machen wollte. Die größte Überwindung für Puh war die morgendliche Wäsche gewesen. Schon am ersten Morgen hatte Stoga ihr beigebracht wie man sich wäscht. Im Lager über dem Feuer köchelte immer ein großer Kessel mit Wasser, denn heißes Wasser kann man immer brauchen, erklärte ihr Stoga. Jeden Morgen nahm man also den Kessel mit zum See und füllte so viel von dem kalten Seewasser hinzu bis das Wasser sich sehr angenehm auf der Haut anfühlte. Dann tunkte man einen Stofflappen in das Wasser, nahm man einen seltsamen Stein in die Hand den Stoga Seife nannte und rieb den feuchten Lappen damit bis es schäumte und diesen Schaum rieb man sich überall auf die Haut. Das duftete so gut und der Duft blieb fast den ganzen Tag am Körper erhalten. Vier Tage beobachtete Puh die morgendlichen Waschgänge mit verspannter Miene. Am fünften Morgen nahm er Babas schaumigen Lappen und rieb ein wenig davon auf seinen linken Handrücken. Er starrte darauf als ob er nur wartete, dass die Hand einfach abfiele, aber nichts passierte. Baba konnte an diesem Tag immer wieder beobachten wie Puh heimlich an seinem Handrücken schnupperte, was ihm dann ein winziges Lächeln in sein Gesicht zauberte. Und seit dem Morgen danach wusch er sich so selbstverständlich als hätte er sein ganzes Leben nichts anderes getan. Aber diese Erfahrung schien ihn allgemein mutiger zu machen denn er hatte nun keine Angst mehr das Seewasser zu berühren oder zu trinken. Sogar den Spaten in die dämonische Erde zu rammen, um in einem kleinen Loch die Darmentleerung zu vergraben, hatte scheinbar seinen Schrecken für Puh verloren.
„Er machte mehrere Reisen von denen nur wenig bekannt ist auch in Gebiete die von den anderen Menschen gemieden wurden. In einem solchen Gebiet, einem heißen Wüstengebiet entdeckte er eine Server-Farm aus der alten Zeit.", drang Stoga wieder zu ihr vor.
„Stoga? Was ist eine Sürf Fam?"
„Ser-ver Farm. Das ist ein Gebäude mit ganz vielen, großen Computern.", antwortete Stoga und holte ihren kleinen Taschencomputer heraus, „Also nicht so klein wie dieser Computer sondern so groß wie die Kiste da drüben, aber tausende davon."
Vor einigen Tagen erst hatte sie zählen gelernt. Stoga hatte den Sack mit Bohnen zu einem flachen Felsen gebracht und sie hatten Bohnen gezählt. Zuerst zehn Bohnen. Dann hatten sie zehn solche Haufen gemacht was Stoga Hundert nannte. Sie hatte alles dazwischen gelernt – zwanzig – dreissig – und weiter bis einhundert. Dann weiter mit zweihundert, immer weiter bis hoch zu Tausend. Stoga fragte sie jeden Tag ab ob sie all diese Zahlen Begriffe noch kannte und begann damit ihr einfache Aufgaben zu stellen. Deshalb wusste sie genau wieviel tausend Bohnen oder tausend Computer waren.
„Das muss ein großes Gebäude gewesen sein."
„Ja, da hast du wohl recht, Talaboa."
„Aber eins verstehe ich nicht..."
„Was denn, Kleine?"
„Du brauchst jeden Tag Energie, äh, Strom für kleinen Computer. Viel, viel Strom für Ser-ver Farm."
„Ich weiß. Oder besser ich weiß es nicht. Niemand weiß wo diese Server-Farm steht. Viele Rasu haben schon danach gesucht aber nichts gefunden. Es gibt Rasu die denken, dass die Geschichte einfach erfunden wurde und dass es gar keine von Smafo entdeckte Server-Farm gibt. Ich frage mich aber dann woher kommt das Wissen? Aber du hast recht Talaboa. Wenn es diese Server-Farm gab dann muss dort auch genügend Energie gewesen sein. Wir Rasu glauben, dass es durch Wind- oder Solarenergie gespeist wurde. Aber es gibt schon Zweifel denn es ist kaum zu glauben, dass eine Server-Farm für geschätzte 1400 Jahre einfach so funktioniert."
„Gibt es in Mekka auch eine Server-Farm?"
„Für das Wissen? Nein. Das Wissen ist hauptsächlich auf Papier geschrieben. Es gibt sehr alte Papiere mit der Handschrift von Smafo höchstselbst. Und diese Dokumente werden in Mekka sorgfältig aufbewahrt und weiterentwickelt. Wir haben es noch nicht geschafft alle Elemente, die wir über das Wissen kennen, auch nachzubauen. Manchmal fehlen uns einfach die Rohstoffe, manchmal einfach ein fehlendes Stück Wissen. Es gibt Dinge, vor allem Fahrzeuge, die können wir nicht neu bauen, weil sie zu groß sind oder zu kompliziert. Deshalb suchen die Rasu zunehmend nach bestimmten Geräten während der Hajj. Vor rund zwanzig Jahren zum Beispiel fand ein Rasu einen Ort südlich der Alas Stämme. Dort nahm er 1300 dieser Taschencomputer an sich. Seitdem suchen alle Rasu auf ihrer Hajj in dieser Gegend nach weiteren solcher Lager. Auch diese Solarpanels werden aus großen uralten Panels gebaut. Und die Windräder in Mekka sind allesamt aus alten Windrädern zusammengebaut. So gibt es viel mehr Dinge die wir aus alten Bauteilen zusammenbauen als Dinge die wir gänzlich neu erschaffen. Also Server-Farm nein, aber es gibt einige Computer in Mekka die das Wissen so speichern, dass man es leicht auf die Taschencomputer der Rasu übertragen kann. Das ist Routine vor jeder Hajj."
„Oh ja, oh ja, erzähl mir von der Hajj.", griff Baba das Stichwort auf denn von dem ungewöhnlichen Redeschwall gerade hatte sie nicht viel begreifen können. Aber die sonst eher schweigsame Stoga schien in Redelaune zu sein. Das musste genutzt werden, dachte Baba.
„Die Hajj ist ein Privileg der Rasu. Alle anderen Bao, oder Unberührten wie der Yamut sagt, müssen zu ihrem eigenen Schutz in Mekka bleiben."
„Sind sie auch Sklaven in Mekka? Sklaven der Rasu?"
„Oh nein. Es ist wirklich zu unser aller Schutz. Die Regel im Yamut war nicht immer so, also gab es einige Bao, die Handel mit den Stämmen trieben aber weder Rasu noch auf der Hajj waren. Über viele Jahre ging das sehr gut. Doch eine erwachsene Bao Frau die nur kurze Zeit vorher nach Mekka gekommen war hatte große Probleme sich von der Kultur ihres Stammes zu lösen und in Mekka eine Heimat zu finden. Die Rasu glauben sie war einfach schon zu alt. Diese Frau ging also zurück zu ihrem Stamm, erzählte von Mekka und den Mekkanern und zeigte ihrem Stamm den Weg nach Mekka."
„Und was passierte dann?"
„Es war das Jahr 3774. Der Stamm überfiel Mekka unerwartet im Morgengrauen, töteten einundsiebzig Mekkaner und zwei Rasu. Viele Menschen wurden schwer verletzt und halb Mekka wurde zerschlagen."
„Aber warum?"
„Weil sie uns für Dämonen hielten. Die Ironie war, dass der Stamm zu wenig Wasser für die Wüste von zu Hause mitgebracht hatte. Natürlich wollten sie ihre Schläuche nicht mit Mekkas Dämonenwasser füllen. Wir fanden sie allesamt verdurstet und von der Sonne verbrannt dort in der Wüste wo später unser nördlicher Außenposten stationiert wurde."
„Verdurstet in der Wüste...", dachte Baba laut nach.
„Ja Baba. Wüste nennt man ein Gebiet mit sehr viel Sand oder Stein ohne Wasser oder Pflanzen. Die Tage sind sehr heiß und die Nächte eiskalt. Kein Regen – kein Wasser. Wenn man sich kein Wasser mitnimmt, verdurstet man im Handumdrehen."
„Und welches Jahr haben wir heute?"
„Das Jahr 4036. Die Sache ist also genau 262 Jahre her. Und es brachte einige Veränderungen für Mekka. Pistolen, Gewehre und Munition für neu ausgebildete Sicherheitskräfte. Eine Ausreisebeschränkung für alle Mekkaner. Nur die Rasu dürfen Mekka noch für ihre Hajj verlassen. Und nur ausgewählte Mekkaner besetzen die neu eingeführten Außenposten oder stellen die Besatzung des Sea Clipper."
„Sea Clipper?"
„Ja die Sea Clipper ist ein großes Schiff mit vier Segelmasten. Auf den ersten Blick also unauffällig und getrant als übliches Segelschiff. In seinem Bauch aber gibt es riesige Motoren, denn außer Sichtweite werden die Segel eingezogen, denn die Motoren bringen es schnell voran. Das Schiff ist unterwegs auf einer immer gleichen Route um die Welt von Anlegestelle zu Anlegestelle, bringt und holt die Rasu. Im kommenden Frühjahr kommt sie hier vorbei und bringt uns und einige andere Rasu zurück nach Mekka."
„Stoga?"
„Ja Baba."
„Wie heißt der Ort von die Anlegestelle?"
„Der Ort heißt Ussi-Kau-Punki und eigentlich ist es eine Fabrik für Düngemittel aus der Vorzeit."
„Stoga?"
„Baba, du musst deine Fragen nicht ankündigen, frag einfach frei heraus."
„Okay. Äh. Was ist Dongemitta?"
„Dü-nge-mi-ttel. Wenn man Pflanzen wachsen lässt um sie später zu essen, dann gibt man Dü-nge-mi-ttel dazu, dann wachsen sie besser und geben mehr Früchte."
„Stoga? Warum ist Düngemitta Fabrik gute Anlegestelle?"
„Ussi-Kau-Punki liegt direkt am Meer und hat einen eigenen Hafen der in der Vorzeit gebaut wurde. Es gibt dort riesige Dieseltanks. Bevor du fragst, Diesel ist eine besondere Flüssigkeit die Energie macht mit der das Schiff fahren kann. Alle Anlegestellen haben solche Tanks die über hunderte von Jahren aufgetankt worden sind. Damit ist garantiert, dass die Schiffsrouten der Rasu funktionieren. Die gesamte Hafenanlage wurde immer wieder erneuert und instandgesetzt."
„Stoga, was ist instan gesetzt?"
„Reparieren. Alles wird immer neu gemacht, repariert, instandgesetzt."
Baba nickte immer um Stoga zu zeigen, dass sie jetzt den Zusammenhang verstehen konnte.
„Außerdem gibt es dort zwei Windräder aus der alten Zeit die immer noch Strom liefern. Okay, okay, schau mich nicht so fragend an. Also Windräder sind Balken so hoch wie Bäume. Ganz oben befestigt drehen sich drei Flügel im Wind. Das erzeugt Energie, Strom, warte!"
Stoga kramte in einer der Taschen und fischte eine kleine Taschenlampe heraus, drehte das Batteriefach auf und hielt kurz darauf die Batterie in der Hand.
„Hier drin ist Strom. Siehst du? Wenn der Strom nicht in der Lampe ist dann kann ich das Licht nicht einschalten."
Demonstrativ klickte sie den Schalter hin und her. Dann legte sie die Batterie ein, schraubte zu und klickte den Schalter wieder ein und das Licht der Lampe erstrahlte die Umgebung.
„Ich zeige dir genau wie es funktioniert, wenn wir in Ussi-Kau-Punki sind."
„Stoga? Wann wir sind in Ussi-Kau-Punki? Und...und wann kommt die Schiff?"
„Oh das Schiff kommt noch lange nicht, erst am Anfang des nächsten Sommers. Wir gehen nach Ussi-Kau-Punki sobald der Winter einbricht, denn dann ist es dort gemütlicher."
„Stoga? Warum nicht jetzt schon?"
„Weil du meine Talaboa bist. Du musst lernen wie man jagt, wie man in dieser Wildnis überlebt. Es gibt noch das Gebiet der Sibir im Osten, in Asia. Weiter im Osten sind die Mongol...warte."
Stoga holte das faltbare Solarpanel aus der Kiste mit dem Geheimschloss und stöpselte den kleinen Computer an. Der Computer war ungefähr so groß wie eine Männerhand, rechteckig, aus Metall und hauptsächlich schwarzem Glas. Indem sie kurz mit dem Finger auf dem Glas herumtippte ließ Stoga eine Karte erscheinen. Eine Karte, so wusste Baba inzwischen, zeigte die Welt so als ob Baba wie ein Vogel ganz weit hoch in die Luft fliegen würde und alles unter sich in klein sehen könnte. Die Form des Sees an dem sie gerade lagerten, den ganzen Wald der da hinten begann bis dorthin wo er aufhörte. Und wenn sie noch höher kommt würde sie auch die großen Wasser sehen die zwischen dem Land waren. Was Stoga jetzt zeigte war alles Land und alles Wasser auf der Erde.
„Schau. Hier sind wir jetzt gerade. Etwas höher, hier ungefähr ist euer Dorf. Hier überall sind die Stämme der Finn und Nor. Weiter im Osten sind die Sibir Stämme. Ganz hier hinten die Mongol und wenn man hier über die Meerenge geht trifft man die Alas. Und hier weiter die Ennuit."
Baba umkreiste mit dem Finger den größten Teil der Karte und fragte: „Und welche Stamm lebt hier?"
„Kein einziger Stamm lebt hier. Alle Stämme glauben, dass südlich von dieser roten Linie hier das Land von Dämonen oder Shaytan oder Dschinn beherrscht wird und deshalb für sie tabu und unbewohnbar ist. Nur die Bao leben hier. Und zwar genau hier."
Stogas Finger zeigte ungefähr in die Mitte der Karte wo alles Land eine blassgelbe Farbe hatte.
„Mekka!", sagte Baba ehrfürchtig, „Die Stadt in der nur Bao leben."
„Und hier ganz unten?" Baba zeigte auf die wenigen Landmassen unterhalb der südlichen roten Linie.
„Hier, hinter diesen sehr hohe Bergen, den Anden leben die Peru. Hier ganz unten gibt es nur Schnee und Eis, wenig Tiere und deshalb auch keine Menschen und hier drüben, dieses Land wird Seeland genannt und die Stämme nennen sich Samoa. Diese Samoa Stämme sind übrigens auch auf vielen Inseln hier in diesem großen Meer, genannt Pazifik, anzutreffen."
Baba gingen jetzt die Fragen aus und sie musste nachdenken. Aus mehreren solcher Frage-Antwort Runden hatte sie jetzt verstanden, dass es irgendwann vor langer, langer Zeit die alte Welt gab und dass es eine große Katastrophe gab von den Menschen selbst ausgelöst. Was genau nuklear bedeutete konnte sie nicht sagen aber jedenfalls starben ganz viele Menschen sofort und noch mehr wenig später weil sie damals innerhalb der roten Linien lebten. Man konnte dort auch nicht hingehen, weil man sonst starb. Weil die Menschen schnell vergessen hatten warum man an diesem nuklearen Dings starb erklärten sie sich das mit Dämonen. Nur ganz oben und ganz unten hinter der roten Linie gab es kein Nuklear oder wie die Menschen glaubten, keine Dämonen. Aber das mit Abstand erstaunlichste war, dass die Menschen in der alten Zeit alle so aussahen wie die Bao. Alle hatten zehn Finger, zehn Zehen, zwei Beine und zwei Arme und keine Flecken oder Male auf der Haut. Stoga sagte das seien alles die Nachwirkungen von diesem Nuklear.
„Stoga?"
„Ja, Baba? Frag einfach."
„Warum haben die Bao keine Nachwirkung von diesem Nuklear?"
„Keine stimmt nicht ganz. Es sind nur weniger. Auch viele Bao sind anfangs gestorben. Durch einen genetischen Vorteil konnten die Bao eine besonders hohe Konzentration des Antioxidans Glutathion im Blut halten, das negative Effekte der Strahlung ausgleichen konnte. Der Stoff kann bestimmte hochreaktive Moleküle, die unter Strahlungseinfluss vermehrt entstehen, entschärfen. Dadurch vererbten die Bao weit weniger Schäden im Erbgut und hatten deshalb über mehrere Generationen so gut wie keine Mutationen oder andere Zeichen der Strahlenkrankheit."
Baba verstand nicht alle Worte und ab einer gewissen Anhäufung neuer Worte verzichtete sie auf weitere Nachfragen. Aber die Aussage war verständlich für sie. Irgendetwas im Blut der Bao führte dazu, dass dieses Nuklear nicht so schlimm war.
„Stoga? Warum hassen die Stämme Menschen uns Bao Menschen?"
„Manche Stämme wie die Mongol oder die Alas sagen offen, dass die Male und Fehlbildungen die Zeichen der Ehre sind. Sie sagen die Bao sind Verräter an ihren Ahnen, weil die Bao nicht geholfen haben nach der Katastrophe zu helfen. Die Bao hätten sich versteckt wie Feiglinge oder wenden Zauberkraft an und sind deshalb so unberührt."
„Und? Könnte das nicht stimmen?"
„Nein Talaboa. Das stimmt nicht."
Immer wenn Stoga den Titel Talaboa in einen Satz einbaute, so wusste Baba, war das so was wie eine offizielle Aussage, wichtig für die Ausbildung zur Rasu. Das ließ Baba innerlich jubeln. Wenn sie es richtig verstanden hatte dann würde sie jetzt so lange an Stogas Seite sein bis sie alles gelernt hatte was Stoga wusste. Sie würde dann genauso stark und überlegen, so klug und so reich sein wie Stoga jetzt. Unfassbar.
„Hör genau zu, Talaboa. Es gibt viele Dinge die die Stämme nicht erklären können. Warum ihre Ahnen starben, wenn sie Wasser tranken, Pilze aßen, zu weit in den Süden gingen. Sie wußten nichts von der nuklearen Katastrophe also brauchten sie eine andere Erklärung aber fanden keine. Und für all die vielen Dinge für die sie keine logische Erklärung fanden wurde entweder ein Gott, oder ein Dämon oder Zauberei verantwortlich gemacht."
„Aber Rasu.", antwortete Baba ebenfalls in offizieller Art, „Wie konnten die Menschen eine solche Katastrophe vergessen?"
„Hmm, eine gute Frage. Du kannst dir die erste Zeit genau so wenig vorstellen wie ich selbst. Aber denke nur an die Situation kurz danach. Es gab keine Sonne und kein Mond am Himmel dort wo die Stämme heute leben. Nur eine Wolke aus Staub. Die Pflanzen konnten nicht ausreichend wachsen und die Menschen mussten Wurzeln und Nüsse und Würmer, Käfer und Spinnen essen. Doch alles war verseucht. Nicht so stark wie in den Gebieten jenseits der roten Linien, aber immer noch so stark, dass die Menschen nur mit großen Schmerzen gerade mal so alt wurden um ein Baby zu bekommen. Diese Menschen hatten keine Lust und keine Zeit sich irgendwelche Gedanken über Bao zu machen. Jeder sah nach sich selbst, lebte kurz und schmerzvoll, die Kinder die sie gebaren waren oft entstellt von den nuklearen Auswirkungen. So wurden die Fehlbildungen weitervererbt."
„Aber die Bao..."
„Geduld Talaboa. Von damals bis heute sind 1964 Jahre vergangen. Was die Menschen damals tötete, dieses Nuklear wie du es nennst, heißt eigentlich Cäsium137. Durch die Katastrophe und die große Staubwolke wurde dieses Cäsium137 überall verteilt und wenn die Menschen es über die Ernährung in ihre Körper brachten dann fraß es sie von innen auf. Cäsium137 hat eine Halbwertzeit von ca. 30 Jahren. Halbwertzeit bedeutet, dass die Menge sich in dieser Zeit halbiert. Wenn also hier auf diesem Grashalm zwanzig Cäsium137 heute sind dann sind in 30 Jahren nur noch zehn übrig, in 60 Jahren nur noch fünf, und so weiter. Nach mittlerweile 65 Halbwertzyklen ist die Cäsium137 Belastung weltweit wieder auf einem Normalwert."
„Man kann also jetzt wieder alles essen und trinken und man wird nicht krank?"
„Gut aufgepasst, Talaboa. Das Wort Bao in der Chinn Sprache, oder auch Tendua in der Hindi Sprache, bedeutet Panther. So werden alle Menschen wie wir bezeichnet, leicht dunkle Haut, schwarzes, dickes Haar und helle Augen, oftmals gelb oder grün. Katzenaugen."
Unwillkürlich musterte Baba ihre Rasu. Sie trug die schwarzen Haare in drei Linien über die Kopfhaut geflochten und hinten wo die Haare länger waren zu einem einzigen Zopf vereinigt. Ihre kantigen Wangenknochen gaben ihrem Gesicht einen harten Ausdruck der durch dichte schwarze Augenbrauen unterstützt wurde. Den Kontrast bildeten eine kleine niedliche Nase, volle Lippen und natürlich diese bernsteingelben Augen, stechend wie Blitze. Seit kurzer Zeit wusste Baba auch wie sie selbst aussah, dank dieses Spiegeldings. Ihre Augen waren hellblau. Das sei ganz selten bei den Mekkanern aber es kommt schon vor. Stoga unterschied genau. Die Bao Menschen bei den Stämmen nannte sie Bao oder Tendua aber die Bao die nicht bei den Stämmen lebten waren Mekkaner. Sie, Baba, war jetzt also eine Mekkanerin. Nach der Stadt Mekka benannt, dem Zufluchtsort aller Bao.
„Aber...aber nochmal zurück. Die Stämme sagen die Bao haben sich versteckt und sind Feiglinge."
„Ja, worauf willst du hinaus."
„Mekka. Ist das nicht ein Versteck?"
„Sicher, aber es entstand viel später. Mekka wurde erst zum Versteck nachdem die Stämme die Bao des Verrats beschuldigten und sogar verfolgten und mit dem Tode bedrohten."
„Und warum Mekka?"
„Das habe ich doch schon vorgelesen aus der Yamut. Erinnerst du dich nicht?"
„Doch, aber nur, dass Smafo mit den 42 Talaboa nach Mekka ging aber nicht warum ausgerechnet Mekka. War das nicht die Stadt mit der ersten bösen Bombe? Warum dort?"
„Mekka war schon in der Vorzeit eine sehr alte Stadt mit diesem Namen. Es war ein wichtiges religiöses Zentrum gewesen und das nur wegen einem Stern der vom Himmel genau dort auf die Erde gefallen war."
Baba staunte. Ein Stern der auf die Erde fiel? Sie kannte die Sterne am Nachthimmel aber laut Stoga war der in Mekka jetzt ein schwarzer glatter Stein.
„Das Mekka der Vorzeit war deshalb auch ein Ort zu dem alle Gläubigen hin wanderten um zu beten. Nach der nuklearen Katastrophe lebte dort aber niemand mehr und es kam auch niemand mehr um zu beten."
„Nur Smafo."
„Genau. Aber nicht um zu beten, sondern weil er wusste, an diesen Ort würde sich ganz sicher kein Händler verirren. In Smafos Familie wurde sowohl der Glaube als auch die alten Geschichten des Krieges der zur Katastrophe führte immer weitererzählt. Diese Familie lebte als Nomadenstamm in einer Wüstenregion und waren schon immer gewohnt dem kargen Leben zu trotzen. Smafo, der damals noch Abdul hieß wollte nicht sein ganzes Leben in der Wüste verbringen und von reisenden Händlern hatte er von weit entfernt lebenden Stämmen erfahren. Es zog ihn mit aller Macht in die Ferne. Den Rest kennst du aus der Yamut, oder?"
Baba schaute zu Puh. Er war so schweigsam. Aber es schien ihm gut zu gehen. Sie spürte keine Wut und keinen Hass bei ihm, nur stille, schweigende Neugier. Was mochte er wohl denken und wieviel verstand er wohl von ihrem Inglis Geschwafel? Sein Respekt vor Stoga war jedenfalls riesengroß und ging immer wieder in Angst und Panik über. Ziemlich oft dachte Baba, dass er wohl gleich weglaufen würde doch irgendwie bekam er sich sofort wieder in den Griff. Stoga zwang ihn aber auch nicht dazu etwas zu machen was er nicht machen wollte. Die größte Überwindung für Puh war die morgendliche Wäsche gewesen. Schon am ersten Morgen hatte Stoga ihr beigebracht wie man sich wäscht. Im Lager über dem Feuer köchelte immer ein großer Kessel mit Wasser, denn heißes Wasser kann man immer brauchen, erklärte ihr Stoga. Jeden Morgen nahm man also den Kessel mit zum See und füllte so viel von dem kalten Seewasser hinzu bis das Wasser sich sehr angenehm auf der Haut anfühlte. Dann tunkte man einen Stofflappen in das Wasser, nahm man einen seltsamen Stein in die Hand den Stoga Seife nannte und rieb den feuchten Lappen damit bis es schäumte und diesen Schaum rieb man sich überall auf die Haut. Das duftete so gut und der Duft blieb fast den ganzen Tag am Körper erhalten. Vier Tage beobachtete Puh die morgendlichen Waschgänge mit verspannter Miene. Am fünften Morgen nahm er Babas schaumigen Lappen und rieb ein wenig davon auf seinen linken Handrücken. Er starrte darauf als ob er nur wartete, dass die Hand einfach abfiele, aber nichts passierte. Baba konnte an diesem Tag immer wieder beobachten wie Puh heimlich an seinem Handrücken schnupperte, was ihm dann ein winziges Lächeln in sein Gesicht zauberte. Und seit dem Morgen danach wusch er sich so selbstverständlich als hätte er sein ganzes Leben nichts anderes getan. Aber diese Erfahrung schien ihn allgemein mutiger zu machen denn er hatte nun keine Angst mehr das Seewasser zu berühren oder zu trinken. Sogar den Spaten in die dämonische Erde zu rammen, um in einem kleinen Loch die Darmentleerung zu vergraben, hatte scheinbar seinen Schrecken für Puh verloren.
„Er machte mehrere Reisen von denen nur wenig bekannt ist auch in Gebiete die von den anderen Menschen gemieden wurden. In einem solchen Gebiet, einem heißen Wüstengebiet entdeckte er eine Server-Farm aus der alten Zeit.", drang Stoga wieder zu ihr vor.
„Stoga? Was ist eine Sürf Fam?"
„Ser-ver Farm. Das ist ein Gebäude mit ganz vielen, großen Computern.", antwortete Stoga und holte ihren kleinen Taschencomputer heraus, „Also nicht so klein wie dieser Computer sondern so groß wie die Kiste da drüben, aber tausende davon."
Vor einigen Tagen erst hatte sie zählen gelernt. Stoga hatte den Sack mit Bohnen zu einem flachen Felsen gebracht und sie hatten Bohnen gezählt. Zuerst zehn Bohnen. Dann hatten sie zehn solche Haufen gemacht was Stoga Hundert nannte. Sie hatte alles dazwischen gelernt – zwanzig – dreissig – und weiter bis einhundert. Dann weiter mit zweihundert, immer weiter bis hoch zu Tausend. Stoga fragte sie jeden Tag ab ob sie all diese Zahlen Begriffe noch kannte und begann damit ihr einfache Aufgaben zu stellen. Deshalb wusste sie genau wieviel tausend Bohnen oder tausend Computer waren.
„Das muss ein großes Gebäude gewesen sein."
„Ja, da hast du wohl recht, Talaboa."
„Aber eins verstehe ich nicht..."
„Was denn, Kleine?"
„Du brauchst jeden Tag Energie, äh, Strom für kleinen Computer. Viel, viel Strom für Ser-ver Farm."
„Ich weiß. Oder besser ich weiß es nicht. Niemand weiß wo diese Server-Farm steht. Viele Rasu haben schon danach gesucht aber nichts gefunden. Es gibt Rasu die denken, dass die Geschichte einfach erfunden wurde und dass es gar keine von Smafo entdeckte Server-Farm gibt. Ich frage mich aber dann woher kommt das Wissen? Aber du hast recht Talaboa. Wenn es diese Server-Farm gab dann muss dort auch genügend Energie gewesen sein. Wir Rasu glauben, dass es durch Wind- oder Solarenergie gespeist wurde. Aber es gibt schon Zweifel denn es ist kaum zu glauben, dass eine Server-Farm für geschätzte 1400 Jahre einfach so funktioniert."
„Gibt es in Mekka auch eine Server-Farm?"
„Für das Wissen? Nein. Das Wissen ist hauptsächlich auf Papier geschrieben. Es gibt sehr alte Papiere mit der Handschrift von Smafo höchstselbst. Und diese Dokumente werden in Mekka sorgfältig aufbewahrt und weiterentwickelt. Wir haben es noch nicht geschafft alle Elemente, die wir über das Wissen kennen, auch nachzubauen. Manchmal fehlen uns einfach die Rohstoffe, manchmal einfach ein fehlendes Stück Wissen. Es gibt Dinge, vor allem Fahrzeuge, die können wir nicht neu bauen, weil sie zu groß sind oder zu kompliziert. Deshalb suchen die Rasu zunehmend nach bestimmten Geräten während der Hajj. Vor rund zwanzig Jahren zum Beispiel fand ein Rasu einen Ort südlich der Alas Stämme. Dort nahm er 1300 dieser Taschencomputer an sich. Seitdem suchen alle Rasu auf ihrer Hajj in dieser Gegend nach weiteren solcher Lager. Auch diese Solarpanels werden aus großen uralten Panels gebaut. Und die Windräder in Mekka sind allesamt aus alten Windrädern zusammengebaut. So gibt es viel mehr Dinge die wir aus alten Bauteilen zusammenbauen als Dinge die wir gänzlich neu erschaffen. Also Server-Farm nein, aber es gibt einige Computer in Mekka die das Wissen so speichern, dass man es leicht auf die Taschencomputer der Rasu übertragen kann. Das ist Routine vor jeder Hajj."
„Oh ja, oh ja, erzähl mir von der Hajj.", griff Baba das Stichwort auf denn von dem ungewöhnlichen Redeschwall gerade hatte sie nicht viel begreifen können. Aber die sonst eher schweigsame Stoga schien in Redelaune zu sein. Das musste genutzt werden, dachte Baba.
„Die Hajj ist ein Privileg der Rasu. Alle anderen Bao, oder Unberührten wie der Yamut sagt, müssen zu ihrem eigenen Schutz in Mekka bleiben."
„Sind sie auch Sklaven in Mekka? Sklaven der Rasu?"
„Oh nein. Es ist wirklich zu unser aller Schutz. Die Regel im Yamut war nicht immer so, also gab es einige Bao, die Handel mit den Stämmen trieben aber weder Rasu noch auf der Hajj waren. Über viele Jahre ging das sehr gut. Doch eine erwachsene Bao Frau die nur kurze Zeit vorher nach Mekka gekommen war hatte große Probleme sich von der Kultur ihres Stammes zu lösen und in Mekka eine Heimat zu finden. Die Rasu glauben sie war einfach schon zu alt. Diese Frau ging also zurück zu ihrem Stamm, erzählte von Mekka und den Mekkanern und zeigte ihrem Stamm den Weg nach Mekka."
„Und was passierte dann?"
„Es war das Jahr 3774. Der Stamm überfiel Mekka unerwartet im Morgengrauen, töteten einundsiebzig Mekkaner und zwei Rasu. Viele Menschen wurden schwer verletzt und halb Mekka wurde zerschlagen."
„Aber warum?"
„Weil sie uns für Dämonen hielten. Die Ironie war, dass der Stamm zu wenig Wasser für die Wüste von zu Hause mitgebracht hatte. Natürlich wollten sie ihre Schläuche nicht mit Mekkas Dämonenwasser füllen. Wir fanden sie allesamt verdurstet und von der Sonne verbrannt dort in der Wüste wo später unser nördlicher Außenposten stationiert wurde."
„Verdurstet in der Wüste...", dachte Baba laut nach.
„Ja Baba. Wüste nennt man ein Gebiet mit sehr viel Sand oder Stein ohne Wasser oder Pflanzen. Die Tage sind sehr heiß und die Nächte eiskalt. Kein Regen – kein Wasser. Wenn man sich kein Wasser mitnimmt, verdurstet man im Handumdrehen."
„Und welches Jahr haben wir heute?"
„Das Jahr 4036. Die Sache ist also genau 262 Jahre her. Und es brachte einige Veränderungen für Mekka. Pistolen, Gewehre und Munition für neu ausgebildete Sicherheitskräfte. Eine Ausreisebeschränkung für alle Mekkaner. Nur die Rasu dürfen Mekka noch für ihre Hajj verlassen. Und nur ausgewählte Mekkaner besetzen die neu eingeführten Außenposten oder stellen die Besatzung des Sea Clipper."
„Sea Clipper?"
„Ja die Sea Clipper ist ein großes Schiff mit vier Segelmasten. Auf den ersten Blick also unauffällig und getrant als übliches Segelschiff. In seinem Bauch aber gibt es riesige Motoren, denn außer Sichtweite werden die Segel eingezogen, denn die Motoren bringen es schnell voran. Das Schiff ist unterwegs auf einer immer gleichen Route um die Welt von Anlegestelle zu Anlegestelle, bringt und holt die Rasu. Im kommenden Frühjahr kommt sie hier vorbei und bringt uns und einige andere Rasu zurück nach Mekka."
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