Jetzt hatte er viel Arbeit vor sich was ihm gut gefiel, weil es seine dunklen Gedanken vertrieb. Warum machte er sich so viele Gedanken wegen diesem dreckigen Bao Kind? Selbst schuld, wenn es im Wald die Dämonen beschwört und sich dabei auch noch beobachten lässt. Dafür kann es nur eine Strafe geben.
Sie hatten den Proleta der das Mädchen beaufsichtigte, angewiesen sie in den Wald zu schicken und die Vorsteher und er selbst waren dem Mädchen gefolgt und hatten mit eigenen Augen und Ohren die Beschwörung beobachtet. Der Fall war klar.
Doch aus einem besonderen Grund mochte Puhuu Jumala dieses Mädchen. Er hatte sie mit seinem zweiten Gesicht gesehen. Sie hatte ihre Hand auf seine Stirn gelegt und eine warme Welle durchströmte seinen Körper. Mehr war es nicht aber das reichte aus um sie in einem besonderen Licht zu sehen.
Das war jetzt aber egal. Das Urteil war gesprochen. Seine Aufgabe war es das große Feuer vorzubereiten, so viele Hölzer ohne Dämonen zu finden die ausreichten um sie auf göttliche Weise ihrem Opfer zuzuführen. Ironischerweise spielte ihm das Unglück in die Hände, denn er konnte das nicht verbrannte Holz des Unglückbaumes getrost verwenden, was ihm eine Menge Zeit ersparte die er jetzt für die Suche nach Duftkräutern verwenden konnte. Puhuu Jumala liebte es bei Feuerzeremonien viele, verschiedene Duftkräuter einzusetzen. Dafür war er berühmt nicht nur bei den Sami. Doch sein gehütetes Geheimnis waren Baumharze die er mit Rentierfett kochte und die Tinktur auf eigentlich geruchslose Kräuter strich. In Verbindung mit Feuer verbreiteten die so präparierten Kräuter einen intensiven süßlichen Duft. Er brauchte dringend ein besonderes Harz das er nur an Bäumen fand die vier Stunden zu Fuß entfernt waren. Also beeilte er sich den Opferplatz herzurichten. Die dreifach Sieben bemalten Opfersteine musste er einzeln aus dem Schrein schleppen um auf dem Weg die Beschwörungsformeln für jeden einzelnen der Steine zu murmeln, die er in der Platzmitte fein säuberlich zu einem Kreis zusammenlegte. Als nächstes zog er weiße Linien aus gemahlenem weißen Steinpulver von jedem siebten Stein zum nächsten sodaß sich ein weißes Dreieck zwischen den Steinen bildete dessen Spitze genau auf die Stelle zeigt an der später der Mond in die Weide eintauchen würde und so die Zeit des Opfers bestimmt. Genau in der Mitte des Dreiecks grub er ein kleines, tiefes Loch mit einer extra dafür zugeschnittenen Schaufel aus dem Rückenblatt eines Rentiers. Die Erde füllte er fein säuberlich in eine Schale. Sie würde später mit Asche und Wasser vermengt wieder in das Loch gestopft werden und so eine besondere Stabilität für die in dem Loch aufgestellten Opferstange bieten. Die Opferstange war wohl das wertvollste was die Sami besaßen. Eine Stange so hoch wie zwei Männer und so dick wie eine Kinderfaust, aber aus reinem Eisen. Sie zu pflegen gehörte zu Puhuu Jumalas heiligen Aufgaben. Deshalb musste er sie täglich auf dunkelrote Flecken prüfen und mit Rentierfett einreiben um die roten Flecken zu vertreiben. Auch die Reinigung nach einer Zeremonie gehörten dazu. Bei einem Brandopfer genügte es in der Regel den Ruß abzuwaschen wenn die Stange ausgekühlt war. Bei einer Pranger Strafe hatte er viel größere Probleme weil zwangsläufig viele neue rote Flecken entstanden wenn die Strafe einige Tage dauerte. Er musste jedes Mal die Stange stundenlang mit feinem Sand abreiben bis die Flecken verschwunden waren.
Als nächstes befüllte er das Dreieck zwischen den weißen Linien mit der ersten Schicht Holzscheite, dann eine Schicht getrocknete Holzzweige und noch eine Schicht Holzscheite. Die Sonne stand schon tief was ihm zeigte, dass die Nacht schon angebrochen war. Es war die Zeit der ewigen Tage, was bedeutete, dass die Sonne nicht vollständig untergeht und er deshalb ohne Probleme seine kleine Reise zu den Harzbäumen unternehmen konnte.
Die Bäume befanden sich auf der anderen Seite eines typischen Sees wie es sie hier vielfach gab. Die Sami gingen niemals ins ruhige Seewasser denn es war voller Dämonen. Wasser musste sichtbar fließen um dämonenfrei zu sein. Puhuu Jumala war da mutiger, denn er war kein echter Sami und er hatte den Zeitpunkt seines Todes gesehen. Dabei war weit und breit kein Wasser im Spiel. Im Gegenteil. Nur Hitze und Sand, Unmengen von Sand, ein Meer aus Sand. Er umrundete also direkt am Wasser den See, das Lied übend, dass er bald bei der Zeremonie singen würde und was den großen Kampf beschrieb den Jumala der wichtigste Gott der Sami mit den Dämonen, in der alten Sprache Shaytan genannt, bis zum bitteren Ende und überragenden Sieg führte:
Für Puhuu Jumala war es besonders wichtig das Lied nicht mit einer klaren Stimme zu singen sondern die Töne fast brummend, vibrierend aus der Lunge zu pressen, es gab deshalb auch keine Melodie oder eine Tonleiter, sondern lediglich fast eintönig gesummte Worte der Beschwörung.
Während er also vor sich hin summend am See entlang wanderte blickte er immer wieder hinüber zu der Stelle am anderen Ufer wo die Harzbäume in einer Gruppe standen. So konnte er einschätzen ob er gut vorankam. Einmal blieb er sogar kurz stehen um den Anblick des Sees zu genießen der jetzt, den ganzen Tag aufgetankt mit Sonnenlicht, eine flache Nebelbank auf die Wasseroberfläche legte. Und plötzlich hatte er eine Erscheinung. Das zweite Gesicht. Ein Elch schwebte im Nebel über das Wasser. Nein, er schwebte nicht und er schwamm nicht. Da war ein Ding, länglich, welches im Wasser schwamm und den Elch auf sich trug. War das Ding ein…ein… Er konnte sich nicht mehr an das Wort erinnern aber an die Beschreibung eines Händlers. Der hatte erzählt, dass er in so einem Ding ein Wasser überquert hatte um sie zu besuchen und dieses Ding war so groß, dass es nicht nur einen Elch, sondern den Händler, seinen Esel und seinen Karren tragen konnte. Unglaublich. Einfach so über das Wasser. Während er noch darüber nachdachte wie das Ding wohl heißen könnte war seine Erscheinung wieder im Nebel verschwunden. Puhuu Jumala stand noch einige Minuten still und starrte in den Nebel bevor er sich weiter auf den Weg machte. Den ganzen Weg bis zu den Harzbäumen ließ er den Nebel auf dem See nicht mehr aus den Augen doch die Erscheinung kehrte nicht zurück.
Die Ernte war herausragend. Der Elch auf dem See hatte ihm Glück gebracht. Dicke Klumpen von gelblich weißem getrockneten Harz kratze er aus der Rinde der Bäume und dort wo er kratzte tropfte schon wieder frisches Harz aus der Rinde um für die nächste Ernte zu trocknen. Sein Beutel, ungefähr so groß wie der Euter einer Rentierkuh war prall gefüllt. So viel auf einmal. Sonst musste er mindestens drei Mal wandern um so viel Harz zu bekommen. Welch ein Glück. Das war ein Zeichen von Jumala. Er würde den nächsten Händler ausquetschen nach diesem Ding das auf dem Wasser schwimmt und versuchen selbst so etwas zu besitzen um damit den See zu den Harzbäumen zu queren. Ganz klar. Dann würde die Ernte immer so üppig sein. Das ist es was Jumala ihm sagen will.
Auf dem gesamten Rückweg hielt er Ausschau nach dem Elch doch in seinem Herzen erwartete er gar nicht die Erscheinung nochmals zu sehen. Jumalas Botschaft war überbracht es gab keinen Grund für weitere Zeichen.
Er hatte Kog den Proleta von einem der Vorsteher gebeten das Feuer in seinem Haus zu versorgen auf dem das Rentierfett warmgehalten wurde. Natürlich wusste niemand, dass Puhuu Jumala das Fett auch für seine Duftkräutertinktur brauchte. Alle dachten es wäre der Brandbeschleuniger für die Zeremonie später. Das Fett blubberte vor sich hin als er seine Hütte betrat um Kog dankend zu verabschieden und seinen Heilmantel in die Tür zu hängen um dem Dorf anzuzeigen, dass er nicht gestört werden darf. Auf einer Steinplatte zerstampfte er drei große Harzklumpen zu einem schon intensiv riechenden Pulver das er vorsichtig zu einem zweiten kleinen Kupferkessel mit heißem Fett hinzu schüttete. Der Duft in seinem Haus war jetzt betörend und jedes Mal zu diesem Zeitpunkt hatte er Furcht, dass jemand aus dem Dorf, angelockt von dem Duft, ihm auf die Schliche käme. Kräuterstrünke hatte er genug. Er betröpfelte sie sorgfältig mit der Duftmischung.
In der Wand seiner Hütte hatte er ein kleines Loch eingefügt durch das er zu allen Jahreszeiten die Mond- und Sonnenstellung erkennen konnte. Dieses Loch erlaubte ihm genau zum richtigen Zeitpunkt aus seinem Haus zu schreiten was seinen seherischen Fähigkeiten mehr Nachdruck unter der Dorfgemeinschaft verlieh. Er wusste, dass viele Herra im Dorf sich wunderten, dass er immer im genau richtigen Augenblick die Zeremonie begann während alle anderen unsicher auf dem Dorfplatz der Zeremonie entgegenfieberten. Der kurze Blick durch das Loch verriet ihm, dass er noch eine Stunde Zeit haben würde bis er mit feierlicher Miene auf den Platz treten müsste. Ruhig setzte er sich auf das Bärenfell das man ihm vor ein paar Jahren überlassen hatte und versuchte mit Jumala in Kontakt zu treten. Immer wieder kreisten seine Gedanken um die Erscheinung auf dem See. Es war zwar ein Elch den er gesehen hatte aber seine Bewegungen waren die eines Menschen der den Oberkörper nach vorne drückt und wieder zurück. Kein Elch würde sich so bewegen. Ja es sah fast so aus als würde der Elch auf seinem Hinterteil sitzen und mit den Vorderhufen wedeln. Die ganze Erscheinung dauerte ja nur wenige Augenblicke und war vom Nebel verschleiert. Was aber dann als Erscheinung übrig blieb war jedenfalls mehr als seltsam, auch für Puhuu Jumala. Die einzige mögliche Erklärung war, dass Jumala höchstpersönlich ihm erschienen war. Es gab viele Geschichten über Jumala, aber wenn er Menschen gegenübertrat dann in der Gestalt eines Elchs. Plötzlich lief es Puhuu Jumala eiskalt über den Rücken und gleichzeitig begann er zu schwitzen. Er riss die Augen auf und starrte in das Feuer über dem die Kessel baumelten. Er hatte es verbockt. Er hatte versagt. Jumala hatte versucht ihm gegenüberzutreten und er hatten nichts Besseres zu tun als zu seinem Harz zu eilen. Er würde sich das nie verzeihen. Jahrelange Gebete – umsonst. All die Opfer – umsonst. Er hatte die einmalige Chance von Jumala direkt die Erleuchtung zu erfahren, zum nächsten Level seiner Priesterschaft aufzusteigen und er hat diese Chance gegen ein paar Klumpen Harz eingetauscht. Vielleicht war das jetzt die Strafe für seine Duft Tricksereien. Er würde sich das nie verzeihen. Puhuu Jumala sprang auf und wanderte rastlos in seinem kleinen Haus umher. Was konnte er nur tun? Gab es einen Weg? Nein! Aber wenn ein unbedeutendes Bao Mädchen das im Wald mit Dämonen spricht, bei Jumala schon einen Hagelsturm auslöste was wäre dann die Folge seines persönlichen Fehlers. Am liebsten würde er sich jetzt unter sein Bärenfell verkriechen oder irgendein Höhlenloch suchen in dem er sich vor dem Zorn Jumalas verstecken konnte. Doch das ging ja nicht. Er starrte durch das Loch. Der Mond kratzte schon an der Markierung. In wenigen Minuten musste er vor die Dorfgemeinschaft treten und gelassen, souverän wirken. Wie sollte er das schaffen? Er hatte jetzt große Angst, dass Jumala ihn direkt in der Mitte des Dorfes mit einem Blitz oder Schlimmerem einfach niederstrecken würde.
Ja, er war ein Feigling. Die meiste Zeit seines Lebens musste er dem keine Bedeutung schenken, aber wenn er darüber nachdachte musste er zugeben, dass er schon immer ein echter Feigling gewesen war. Er hatte auch keine Ausrede dafür. Da war kein schlimmes Ereignis in seiner Kindheit. Nein er war schon immer einfach nur den Problemen aus dem Weg gegangen. Na klar, das tun doch viele Leute, aber Puhuu Jumala wusste genau wo die Grenze zwischen ‚Problemen aus dem Weg gehen‘ und Feigheit verlief. Ein Feigling fürchtet sich so sehr vor Schmerz, Qual und Unterdrückung, dass diese Furcht die Oberhand gewinnt über alle anderen Gefühle wie Mut, Hass, Stolz, Mitgefühl oder Ungerechtigkeit. Deshalb könnte man vor einem Feigling wie ihm einem unschuldigen Baby die Haut abziehen und er würde nur nach einem Weg suchen schnell zu entkommen. Die Schamanen Berufung war ein Segen für ihn. Er konnte alles Schlechte, auch seine eigenen Handlungen, den Dämonen in die Schuhe schieben. Dafür ließ er Jumala glänzen auch für die guten Taten die auf sein Konto gingen. So sah er es auch mit dem Duftkräuter Betrug. Er tat das zum Wohle Jumalas. Wenn die Leute ihn fragten wie es zu diesem Duft käme dann antwortete er schlicht: „Jumala ist bei uns“. Das war seine Art von Vereinbarung mit Jumala. Die Welt da draußen war hart. Menschen wurden nur dafür getötet, dass sie nicht wie alle anderen waren. Und er war von Anfang an nicht wie alle anderen, denn er hatte weder fehlende noch zu viele Gliedmaßen, keine Merkki, sondern eine gleichmäßig helle Haut. Aber er war klein, sehr klein, vielleicht etwas größer als ein halber Mann und sein Kopf wirkte komisch groß im Verhältnis zu seinem Körper. Dieses anders sein reichte aus, dass seine Mutter ihn einfach irgendwo hatte liegen lassen und es reicht allemal aus, dass man ihn nur deshalb einfach umbringen konnte. Puhuu Jumala wollte nicht sterben und als Schamane wurde zum Glück von ihm erwartet, dass er anders war. Und es war der einzige Weg seine Feigheit vor sich selbst und der Welt zu verbergen.
Doch jetzt hatte er Angst, große Angst. Er war überzeugt, dass Jumala irgendetwas mit ihm vorhatte, aber ganz gewiss nichts Gutes. Es war so weit. Der Mond war an der richtigen Stelle. Er hörte die Dorfgemeinschaft, leise murmelnd sprechen und auf ihn warten. Jetzt schlug er sich fest auf die Brust und zischte zu sich selbst: Du bist Puhuu Jumala, ‚Der mit Jumala spricht‘, jetzt geh da raus und stelle dich deinem Schicksal!“ Für einen kurzen Moment kehrte sein Mut wieder zurück, gerade so lange er brauchte um seinen Heilmantel von der Tür zu nehmen und ihn sich um seine Schultern zu legen. Mit großer Mühe griff er mit seiner rechten Hand nach dem vorbereiteten Fetttiegel und ergriff mit seiner Linken das kleine Bündel Duftkräuter bevor er vor Angst zitternd vor seine Hütte trat. Alle Augen waren auf ihn gerichtet. Der Dorfplatz war voller Herra und Proleta die eine Gasse für ihn bildeten die direkt zur vorbereiteten Opferstelle führte. Die Sonne stand noch tief und der Mond berührte gerade den Horizont hinter der großen Rentierweide. Das schummerige Licht und die Nebelschwaden die gerade mannshoch über der Erde schwebten gaben der bevorstehenden Zeremonie eine mystische Kraft. Doch nur Puhuu Jumala wusste diese Kraft richtig zu deuten. Jumala war hier. Der Nebel war sein Tarnungumhang. Dort auf der Rentierweide waren viele Geweihe schemenhaft im Nebel zu erkennen, doch er suchte nach dem typischen Elchgeweih. Langsam machte er sich auf den Weg zur Opferstätte, hoffend, dass der Heilmantel seine zitternden Knie verbarg. Niemand schien etwas zu bemerken. Alle starrten ihn voller Respekt an. Mit jedem Schritt fiel ihm der Gang leichter, die Blicke stärkten sein Selbstbewusstsein und er begann sich auf die Zeremonie zu konzentrieren. Am Steinkreis angekommen legte er bedächtig seine Mitbringsel auf den Boden und breitete ruckartig seine Arme aus was alle Versammelten augenblicklich verstummen ließ. Mit einer, auch für ihn immer wieder, überraschenden Lautstärke presste er das Lied aus seinem Körper.
Mit dem zweiten O-oyoo Jumala stimmte das ganze Dorf mit ein und wiederholte die Zeile wieder und wieder. Zwei Proleta eilten nun das Bao Mädchen zu holen, während Puhuu Jumala sein Duftkräuterbündel an der Stelle in der Zweigschicht platzierte an der später das Feuer entzündet werden würde. Im Schummerlicht bemerkte er ein gleich neben seiner Stelle eine kleine Kostbarkeit zwischen den Ästen. Eine kleine runde Kunststoffdose mit einem Schraubdeckel aus dem ein kurzer, dicker Faden herausstand. Es war nicht ungewöhnlich, dass Dorfbewohner eine Feueropferzeremonie dazu benutzten um ihre eigenen Geschäfte mit Jumala zu besiegeln und dafür Tierknochenketten oder kleine, aus Dreck geformte Puppen in das Feuer legten. Ganz selten kam es vor, dass er ein Schmuckstück aus Metall im Holzhaufen sah. Doch Kunststoff sah er zum ersten Mal als Opfer. Leider würde davon nichts übrig bleiben nach dem Feuer. Kurz dachte er darüber nach ob er die kostbare Dose in seinem Heilmantel verschwinden lassen sollte, verwarf aber den Gedanken sofort wieder. Die zwei Proleta schleiften das laut schluchzende Bao Mädchen heran. Resignierend ließ es sich mit einem Lederstreifen an dem oberen Ende der Eisenstange festbinden. Selbst wenn ihre Beine sie später nicht mehr tragen könnten, würde sie aufrecht an ihren Armen hängen während sie verbrannte. Puhuu Jumala begann nun den Schwanz eines Wildschweins in den Fetttiegel einzutauchen und die oberen Holzscheite damit zu bestreichen. Dieses Feuer würde gut und schnell brennen und weil er so ein guter Schamane war würden seine göttlichen Düfte den Geruch von brennendem Menschenfleisch egalisieren. Die Dorfgemeinschaft summte indessen ihr unentwegtes O-oyoo Jumala. Alles war vorbereitet. Ein Proleta reichte ihm zwei brennende Fackeln. Langsam breitete er die Arme mit den Fackeln aus und der Gesang wurde stärker, intensiver, lauter, hatte jetzt fast einen tranceartigen, beschwörenden Klang. Gefühlt im richtigen Moment stieß Puhuu Jumala die beiden Fackeln durch die oberen Holzscheite bis tief in die Schicht der Zweige, ungefähr dort wo er sein Duftbündel platziert hatte und trat fünf Schritte zurück aus dem Steinkreis. Die Holzscheite fingen sofort Feuer und die Flammen wanderten auf das Mädchen zu das sich in der Lederschlinge zu winden begann und dabei schrie wie am Spieß.
Gerade als der süße Duft begann sich auszubreiten, zischte das Feuer laut und ein dichter Rauch quoll in einer Geschwindigkeit hervor, dass in zwei Augenblicken die äußeren Steine kaum noch sichtbar waren. Kurz dachte Phuhuu Jumala, dass etwas schiefgegangen ist mit seinem Duftbündel. Hatte er es übertrieben? Doch sofort lief es ihm wieder eiskalt über den Rücken. Er wusste was es war. Jumala war hier. Um ihn zu töten.
Etwas huschte an ihm vorbei. Etwas das ein Elchgeweih trug.
Stoga suchte nach dem Rezept. Sie hatte ihren faltbaren Solarpanel optimal zur Sonne ausgerichtet und eine kleine rote Diode verriet ihr dass der Akkumulator geladen wurde. Elektrische Energie war hier oben weniger ein Problem, weil sich die Akkus sogar in der hellen Nacht aufladen ließen. Jetzt brauchte sie die Energie um an eine Information zu kommen die sie nicht auswendig kannte.
40% Salmiak (Ammoniumchlorid) – 30% Kaliumchlorat – 30% Zucker
Ein Gedanke schoss ihr durch den Kopf der ihr ein Grinsen auf ihr Gesicht zauberte. Niemand bei diesem Stamm hatte überhaupt einen Schimmer was ‚Prozent‘ bedeutete, geschweige denn ‚Ammoniumchlorid‘ oder ‚Kaliumchlorat‘. Auch Zucker kannte hier draußen niemand. Der Geschmack süß existierte nur in Form von Ahorn Sirup. Ihre Mutter hatte ihr beigebracht, dass es in der Vorzeit sogar Insekten gab die eine süße Flüssigkeit namens Honig hergestellt haben. Doch diese Insekten gab es schon lange nicht mehr. Stoga dachte nicht nur deshalb an ihre Mutter.
„Sei nicht hochmütig, Stoga.“, hatte sie oft gesagt, „Die Stämme können nichts für ihr Unwissen. Und sie haben tausendmal schlimmere Erfahrungen und Entbehrungen durchmachen müssen als wir Bao.“
An dieser Stelle musste Stoga immer daran denken, dass bei den Stämmen niemand wusste was tausend eigentlich bedeutete. Sie hatte selten jemand bei den Stämmen getroffen der weiter zählen konnte als er Finger an der Hand hatte. Und die Zahl der Finger war oft sehr unterschiedlich. Ein Mann mit einer Missbildung von besonders vielen Fingern war quasi ein Mathematikgenie. Und doch verstand Stoga genau was ihre Mutter ihr damals hatte sagen wollen. Es war nicht so, dass sie sie Stämme wirklich verachtete. Sie nahm es diesen armen Menschen nicht übel, dass sie nichts wussten, aber sie konnte einfach diese sinnlose Gewalt nicht ertragen basierend auf Aberglauben und Erklärungsnot. Angeblich hat der weise Smafo anfangs versucht sein Wissen bei den Stämmen zu verbreiten. Er hatte als junger Mann durch Zufall das Geheimnis des Wissens aus der alten Zeit entdeckt und begann Glas aus Sand herzustellen. Über die Jahre kamen immer mehr vertriebene Bao zu ihm, die ihm bei der Herstellung halfen oder als Händler das Glas zu den verschiedenen Stämmen brachten. Doch die Bao waren das geächtete Volk mit dem niemand etwas zu tun haben wollte. Als die Stämme herausfanden, dass Glas aus Sand hergestellt wurde griffen sie Smafos Siedlung an und zerstört alles. Den Bao blieb nur die Flucht oder der Tod. Für die meisten Stämme ist alles auf dem Boden oder im Boden liegende tabu, von Dämonen besetzt. Diesen Aberglauben bekamen auch immer wieder andere Händler zu spüren, wie die Sul, die Plastiksammler oder die Lame die in den Bergen nach Metall gruben um es einzuschmelzen und dann teuer zu verkaufen. Auch die Tanzi, die Gefäße aus Ton herstellten, kamen immer wieder in Erklärungsnot und dachten sich prächtige Geschichten aus woher sie den Rohstoff für die Gefäße bekommen hatten. Nur von den Yan wusste man, dass sie das Wasser des Ozeans in der Sonne trocknen ließen was dann auf magische Weise Salz hinterließ. Das wäre fast schon lustig wenn es nicht so ernst wäre denn die schwache Radioaktivität des Meerwassers wird durch den Siedeprozess quasi konzentriert. Deshalb bevorzugten die Bao das Salz aus ehemaligen Salzbergwerken. Doch den Stämmen schwelgten in ihrem Dämonenglauben und hatten massive Furcht vor allem was unter der Erdoberfläche lauerte. Manchmal wurde ein Händler gefoltert bis er die Wahrheit über die Herstellung seines Handelsgutes beichtete.
Nein die Stämme waren noch nicht so weit, zumindest die noch nicht die Stoga bisher besucht hatte. Ein anderer Rasu, ein guter Freund ihrer Mutter hatte vor einigen Jahren von einer Hajj tief in Asia erzählt, einem Inselreich, mit einem Stamm ohne Häuptling. Mit einem Rat ähnlich wie bei den Mekkanern, ohne Opfer oder Rituale. Aber das war bisher die Ausnahme. Die Stämme waren noch nicht so weit. Punkt. Und das würde sie auch in ihrem Bericht über die Finn Stämme an den Daira al Rasu so beschreiben. Der Daira war der Rat, die Regierung der Mekkaner bestehend aus zwei Vorsitzenden, den Awa Rasu die jeweils eine Stimme hatten und den 40 Rasu die zusammen die dritte Stimme bildeten. Durch dieses System war es angeblich auch unwichtig, dass jeweils immer die Hälfte der vierzig Rasu in Mekka verweilte und sich die andere Hälfte währenddessen auf einer Hajj bei den Stämmen befanden.
40% Salmiak (Ammoniumchlorid) – 30% Kaliumchlorat – 30% Zucker
Soweit so gut. Salmiak und Kaliumchlorat gehörten wie Kalk, Schwefel, Jod und Phosphat zur Standardausrüstung eines Rasu und wurden in stabilen Kunststoffbeuteln verpackt im Rucksackfutter versteckt eingenäht. Die Elemente und chemischen Verbindungen dienten genau diesem Zweck: Einsatzstoffe herzustellen mit explosiver oder verschleiernder Wirkung. Zerstören oder Verstecken. Die Trickkiste der Rasu war groß und wurde nur von dem Drang übertroffen, dass die Stämme all die Technologie niemals zu Gesicht bekämen. Das war oft schwierig. Der ganze High-Tec Kram sollte die kostbaren, über viele Jahre ausgebildeten Rasu und ihre Talaboa beschützen und gleichzeitig durfte niemand von den Stämmen davon erfahren. Theoretisch wurde von einem Rasu erwartet, dass jeder Zeuge ausnahmslos eliminiert wird. Stoga schätzte sich außerordentlich glücklich ein, dass sie bisher noch nie diesen Schritt gehen musste.
40% Salmiak (Ammoniumchlorid) – 30% Kaliumchlorat – 30% Zucker
Es war quasi eine Nebenmission der Rasu, seltene oder in Mekka nicht verfügbare Rohstoffe zu sammeln. Salmiak, Phosphat und Schwefel brachten die Rasu vom Berg Ararat der menschenleer und verlassen auf einer Rasu Route zu den Sibir Stämmen lag. Stoga hatte auf der jetzigen Hajj zu den Finn Stämmen den Auftrag nach Bernstein und Biberfellen Ausschau zu halten, aber bisher hatte sie noch keinen Händler getroffen. Theoretisch könnte sie auch Biber jagen, aber für ihre Hajj hatte sie klare Anweisungen vom Daira al Rasu sich auf ihre Suche nach einem Talaboa zu konzentrieren und nur bei Gelegenheit nach Rohstoffen Ausschau zu halten.
Der Zucker war ein Problem. Stoga hatte nur noch dreiundzwanzig Gramm übrig und war nicht sicher ob diese kleinen Menge für ihr Vorhaben ausreichen würde. Eigentlich wurde jede Hajj mit übertrieben viel Zucker ausgestattet, weil das, neben dem guten, alten Gold, als wertvolles Zahlungsmittel bei den Stämmen galt und mit ebensolchem aufgewogen wurde. Kristalliner Zucker war für die Bao viel einfacher zugreifbar als das gelbe Edelmetall. Doch die Kilos waren futsch. Stoga wusste nicht wie oder wann, sie wusste nur, dass es auf dem Weg hierher verloren gegangen sein musste. Ein wenig mulmig wurde Stoga schon bei dem Gedanken, jetzt ihren letzte Zucker einzusetzen, aber sie tröstete sich mit dem Gedanken, dass, wenn ihr Vorhaben klappt, sie sich sofort auf den Rückweg zum Schiff machen würde.
Der Anlegeplatz war rund dreihundertfünfzig Meilen südwestlich von diesem Stamm entfernt. Das konnte man in drei Wochen schaffen, wenn man es darauf anlegte, sechs Wochen, wenn man niemandem begegnen wollte. Die Landschaft hier war überwiegend der reinste Urwald den man nur mit Schwierigkeiten durchdringen konnte. Es gab zwar auch große Weideflächen die hauptsächlich von Rentierherden bevölkert waren, aber ihre Besitzer wohnten meist direkt nebenan in einem Dorf im Wald. Die Reise würde also hauptsächlich auf dem Wasser stattfinden.
Nur wenige Meilen südlich von hier begann schon das Pa-aya-shaytan, das Dämonenland. Wie Stoga wusste wie diese Zonen entstanden sind und für Jahrhunderte so überliefert wurden. Je südlicher man ging desto mehr nahm die Radioaktivität und damit die Strahlenkrankheit zu. Die Stämme mieden diese Zonen wie die Pest. Die Grenze war eigentlich gut erkennbar, zumindest wenn die Stämme in der Nähe siedelten. Alle paar Meter thronten bunt bemalte, mit Federn und kleinen Knochen behängte Rentierschädel auf Holzpfählen und warnten davor hier weiterzugehen. Völlig unnötig, denn schon als sie selbst noch eine Talaboa war hatte Stoga gelernt, dass das auf der Erde durch Fallout und Asche verbreitete Cäsium137 eine Halbwertzeit von weniger als 30 Jahren hat. Nach mittlerweile 65 Halbwertzyklen war die Cäsium137 Belastung weltweit, selbst mitten in den auslösenden Bombenkratern, wieder auf einem Normalwert. Auch wenn die Stämme nach wie vor das Dämonenland mieden gab es eine zunehmende Anzahl von Menschen, Ausgestoßene, ehemalige Sklaven oder Verurteilte, die nichts zu verlieren hatten und die Dämonengrenze einfach passierten und feststellten, dass sie nicht von den Shaytan zerfetzt wurden. Aber sie waren scheu, mieden einander und jeden anderen Kontakt und verbargen sich im undurchdringlichen Urwald. Aber das Land hier war durchzogen von tausenden kleinen Seen die alle irgendwie miteinander verbunden waren. Tatsache war, dass Stoga nur sechs Mal ihr Kanu komplett leeren und die einzelnen Teile der Ausrüstung und das Kanu portionsweise über Land tragen musste. Davon vier Mal nur wenige Meter über einen ‚Dämonentempel‘, wie die Stämme sagten. Stoga wusste, dass es sich um die Betonmauern einer Wasserschleuse aus der alten Zeit handelte. Stoga tippte darauf, dass bei einem der zwei längeren Strecken zwischen zwei Seen das Paket mit dem Zucker von einem der scheuen Ausgestoßenen gestohlen wurde. Warum sie es nicht gleich bemerkt hatte blieb ein Rätsel.
Wiederwillig holte Stoga die letzten paar Gramm des Zuckers aus der Ledertasche in der alle Kochutensilien, Geschirr, Salz, Gewürze und eben auch der Kochzucker untergebracht waren. Vorsichtig, um nichts zu verschütten, gab sie den Zucker zu den dreiundzwanzig Gramm Kaliumchloratpulver in den kleinen Küchenmörser und zerstieß beides zu einem gleichmäßig feinen Pulver. Dann mengte sie mit Bedacht exakt 30,6 Gramm pulverisierten Salmiak bei und schüttete das Gemisch auf ein Stück feines Papier dessen Enden sie nach oben zusammenführte damit ein keiner Pulverbeutel entstand. Zuvor hatte sie eine kurze Lunte hergestellt indem sie Schießpulver in feinem Papier ganz dünn einrollte, an einem Ende einen kleinen Schießpulversack als Zünder formte und das Ganze mit warmem Harz sauber verklebte. Diese Zündschnur platzierte sie jetzt mit dem dicken Ende in dem Pulvergemisch und band das Papiersäckchen um die Zündschnur herum mit einem Faden zu. Jetzt suchte sie ein Gefäß, groß genug für das Papiersäckchen, aber nicht zu groß damit die Kompression ausreichend war. Eine kleine Kunststoffdose in der bisher Oregano aufbewahrt wurde, war schnell geleert. Stoga drehte mit der Messerspitze viele Löcher in die Dose und in den Deckel nur ein kleines in der Mitte durch das sie die Zündschnur steckte bevor sie die kleine Dose mit dem Pulversack darin sorgfältig verschraubte.
Die Sonne stand schon sehr tief. Mitternacht war vorüber. Stoga beeilte sich ihr Gesicht und ihre Arme mit grünbraunem Schlamm einzureiben um ihre menschliche Hautfarbe völlig unkenntlich zu machen. Heute Nacht würde sie ein Gott sein. Schon kurz nachdem sie das Schiff verlassen hatten half Falout ihr sich ein Gotteskostüm als mögliche Tarnung zu bauen. Falout hatte schon zwei Hajj in dieser Gegend unternommen und kannte sich aus mit den Finn Stämmen. Also erklärte er ihr, dass der wichtigste Finn Gott Jumala sich angeblich nur in Elchgestalt den Menschen zeigte. Und dieser Aberglaube konnte in bestimmten Situationen außerordentlich nützlich sein. Deshalb übernahm Stoga die Aufgabe einen Elch zu schießen, das Fell von allen Rückständen zu reinigen und daraus zwei Umhänge mit Kapuzen zu fertigen. Das Elchfleisch schnitt sie in Streifen die sie im Rauch haltbar machte. Eine angenehme Wegzehrung für zwischendurch. Doch viel zu viel. Deshalb lagerten sie einen Großteil in der Nähe der Anlegestelle. Dann mussten sie weniger jagen während sie auf das Schiff warteten. Falout schnitzte die Elchgeweihattrappen aus weichem Kiefernholz. Ein echtes Elchgeweih wog gut und gerne zwanzig, dreißig Kilo. Viel zu schwer für ein Kostüm das die Stämme täuschen sollte. Stoga sah abenteuerlich aus. Den großen Fellumhang hatte sie um Brust und Bauch fest verzurrt. Über der Kapuze trohnte ein mittelprächtiges Elchgeweih. Ihre verschlammten Arme hatte sie durch Seitenschlitze im Fell nach außen gesteckt. Das Gesamtkunstwerk war eine wilde Mischung aus grünbraunem Fell und Schlamm – Ein dürrer Elch der sich aus einem Schlammloch retten konnte. Natürlich sah man sofort, dass dies kein Elch sein konnte. Stoga hoffte inständig, dass Falout recht damit hatte, dass furchtsame Phantasie und tiefe Religiösität den Gott Jumala in ihr entstehen ließen.
In dem Kostüm mit dem Kanu den See zu überqueren war eine Herausforderung. Das Holzgeweih wackelte wild auf ihrem Kopf bei jedem Ruderschlag. Sie beugte den Oberkörper nach vorne und konzentrierte sich auf das Rudern während sie ihren Blick den Fellstücken zuwandte, die sie um ihre Stiefel gewickelt hatte. Ausschau zu halten war sowieso zwecklos, denn sie war von einer flachen Nebelbank umgeben. Nur ab und zu schaute sie zum Himmel um sich zu orientieren und zu vermeiden, dass sie im Kreis fuhr. Das gegenüberliegende Ufer würde sie eben erspüren müssen. Es kam ihr wie eine Ewigkeit vor und gerade als sie begann zu zweifeln ob dieser eine Stern tatsächlich in ihrer Richtung lag und nicht die lange Seite des Sees hinunter, erkannte sie Äste und Blätter über sich. Ein Ruderschlag später wurde das Kanu abrupt gestoppt und das Seeufer erschien blass im Nebel. Stoga orientierte sich und suchte eilig nach einem größeren Busch am Ufer in dem sie das Kanu verstecken könnte. Nachdem ihr das endlich gelungen war markierte sie den Busch mit drei aufeinandergelegten Steinen davor. Stoga eilte in Richtung Dorf. Sie rechnete zwar nicht mit Dorfbewohnern um diese Zeit zumal sicher alle schliefen weil die Zeremonie sehr früh beginnen würde, doch trotzdem bleib sie auf der Hut je näher sie dem Dorf kam. Immer wieder blickte sie zurück um sich den Weg durch den Wald einzuprägen. Der Rückweg musste sehr schnell gehen und sie konnte sich nicht leisten das Kanu suchen zu müssen. An drei zweifelhaften Stellen machte sie weitere Markierungen mit gestapelten Steinen. Schließlich erreichte sie ein gutes Versteck bei einem Holzstapel der sie verdeckte. Von hier aus konnte sie den gesamten Dorfplatz gut einsehen. Sie erkannte die vorbereitete Opferstätte, ihr Ziel. Stoga wartete zehn Minuten und nichts rührte sich. Nach weiteren zehn Minuten war sie relativ sicher, dass hier keine Wachen patrouillierten. Es schien gar keine Wachen zu geben oder vielleicht nur in der Hütte in der sie das arme Mädchen festhielten. Warum auch. Stoga fasste sich ein Herz, glitt im Schatten einer Hauswand weiter auf das Dorfzentrum zu, verharrte an der Ecke, schaute sich ein letztes Mal um und sprang dann flink zu dem Scheiterhaufen, steckte die Kunststoffdose zwischen die Holzscheite und eilte aus dem Schummerlicht der tief stehenden Sonne in den Schatten zurück. Das war geschafft.
Sie hatten den Proleta der das Mädchen beaufsichtigte, angewiesen sie in den Wald zu schicken und die Vorsteher und er selbst waren dem Mädchen gefolgt und hatten mit eigenen Augen und Ohren die Beschwörung beobachtet. Der Fall war klar.
Doch aus einem besonderen Grund mochte Puhuu Jumala dieses Mädchen. Er hatte sie mit seinem zweiten Gesicht gesehen. Sie hatte ihre Hand auf seine Stirn gelegt und eine warme Welle durchströmte seinen Körper. Mehr war es nicht aber das reichte aus um sie in einem besonderen Licht zu sehen.
Das war jetzt aber egal. Das Urteil war gesprochen. Seine Aufgabe war es das große Feuer vorzubereiten, so viele Hölzer ohne Dämonen zu finden die ausreichten um sie auf göttliche Weise ihrem Opfer zuzuführen. Ironischerweise spielte ihm das Unglück in die Hände, denn er konnte das nicht verbrannte Holz des Unglückbaumes getrost verwenden, was ihm eine Menge Zeit ersparte die er jetzt für die Suche nach Duftkräutern verwenden konnte. Puhuu Jumala liebte es bei Feuerzeremonien viele, verschiedene Duftkräuter einzusetzen. Dafür war er berühmt nicht nur bei den Sami. Doch sein gehütetes Geheimnis waren Baumharze die er mit Rentierfett kochte und die Tinktur auf eigentlich geruchslose Kräuter strich. In Verbindung mit Feuer verbreiteten die so präparierten Kräuter einen intensiven süßlichen Duft. Er brauchte dringend ein besonderes Harz das er nur an Bäumen fand die vier Stunden zu Fuß entfernt waren. Also beeilte er sich den Opferplatz herzurichten. Die dreifach Sieben bemalten Opfersteine musste er einzeln aus dem Schrein schleppen um auf dem Weg die Beschwörungsformeln für jeden einzelnen der Steine zu murmeln, die er in der Platzmitte fein säuberlich zu einem Kreis zusammenlegte. Als nächstes zog er weiße Linien aus gemahlenem weißen Steinpulver von jedem siebten Stein zum nächsten sodaß sich ein weißes Dreieck zwischen den Steinen bildete dessen Spitze genau auf die Stelle zeigt an der später der Mond in die Weide eintauchen würde und so die Zeit des Opfers bestimmt. Genau in der Mitte des Dreiecks grub er ein kleines, tiefes Loch mit einer extra dafür zugeschnittenen Schaufel aus dem Rückenblatt eines Rentiers. Die Erde füllte er fein säuberlich in eine Schale. Sie würde später mit Asche und Wasser vermengt wieder in das Loch gestopft werden und so eine besondere Stabilität für die in dem Loch aufgestellten Opferstange bieten. Die Opferstange war wohl das wertvollste was die Sami besaßen. Eine Stange so hoch wie zwei Männer und so dick wie eine Kinderfaust, aber aus reinem Eisen. Sie zu pflegen gehörte zu Puhuu Jumalas heiligen Aufgaben. Deshalb musste er sie täglich auf dunkelrote Flecken prüfen und mit Rentierfett einreiben um die roten Flecken zu vertreiben. Auch die Reinigung nach einer Zeremonie gehörten dazu. Bei einem Brandopfer genügte es in der Regel den Ruß abzuwaschen wenn die Stange ausgekühlt war. Bei einer Pranger Strafe hatte er viel größere Probleme weil zwangsläufig viele neue rote Flecken entstanden wenn die Strafe einige Tage dauerte. Er musste jedes Mal die Stange stundenlang mit feinem Sand abreiben bis die Flecken verschwunden waren.
Als nächstes befüllte er das Dreieck zwischen den weißen Linien mit der ersten Schicht Holzscheite, dann eine Schicht getrocknete Holzzweige und noch eine Schicht Holzscheite. Die Sonne stand schon tief was ihm zeigte, dass die Nacht schon angebrochen war. Es war die Zeit der ewigen Tage, was bedeutete, dass die Sonne nicht vollständig untergeht und er deshalb ohne Probleme seine kleine Reise zu den Harzbäumen unternehmen konnte.
Die Bäume befanden sich auf der anderen Seite eines typischen Sees wie es sie hier vielfach gab. Die Sami gingen niemals ins ruhige Seewasser denn es war voller Dämonen. Wasser musste sichtbar fließen um dämonenfrei zu sein. Puhuu Jumala war da mutiger, denn er war kein echter Sami und er hatte den Zeitpunkt seines Todes gesehen. Dabei war weit und breit kein Wasser im Spiel. Im Gegenteil. Nur Hitze und Sand, Unmengen von Sand, ein Meer aus Sand. Er umrundete also direkt am Wasser den See, das Lied übend, dass er bald bei der Zeremonie singen würde und was den großen Kampf beschrieb den Jumala der wichtigste Gott der Sami mit den Dämonen, in der alten Sprache Shaytan genannt, bis zum bitteren Ende und überragenden Sieg führte:
O-oyoo Jumala
O-oyoo Jumala
Ten ting bras Shaytan Shaytan
Per mil ves Shaytan Shaytan
Ka sen ka-mer Shaytan Shaytan
O-oyoo Jumala
O-oyoo Jumala
O-oyoo Jumala
Ten ting bras Shaytan Shaytan
Per mil ves Shaytan Shaytan
Ka sen ka-mer Shaytan Shaytan
O-oyoo Jumala
O-oyoo Jumala
Für Puhuu Jumala war es besonders wichtig das Lied nicht mit einer klaren Stimme zu singen sondern die Töne fast brummend, vibrierend aus der Lunge zu pressen, es gab deshalb auch keine Melodie oder eine Tonleiter, sondern lediglich fast eintönig gesummte Worte der Beschwörung.
Während er also vor sich hin summend am See entlang wanderte blickte er immer wieder hinüber zu der Stelle am anderen Ufer wo die Harzbäume in einer Gruppe standen. So konnte er einschätzen ob er gut vorankam. Einmal blieb er sogar kurz stehen um den Anblick des Sees zu genießen der jetzt, den ganzen Tag aufgetankt mit Sonnenlicht, eine flache Nebelbank auf die Wasseroberfläche legte. Und plötzlich hatte er eine Erscheinung. Das zweite Gesicht. Ein Elch schwebte im Nebel über das Wasser. Nein, er schwebte nicht und er schwamm nicht. Da war ein Ding, länglich, welches im Wasser schwamm und den Elch auf sich trug. War das Ding ein…ein… Er konnte sich nicht mehr an das Wort erinnern aber an die Beschreibung eines Händlers. Der hatte erzählt, dass er in so einem Ding ein Wasser überquert hatte um sie zu besuchen und dieses Ding war so groß, dass es nicht nur einen Elch, sondern den Händler, seinen Esel und seinen Karren tragen konnte. Unglaublich. Einfach so über das Wasser. Während er noch darüber nachdachte wie das Ding wohl heißen könnte war seine Erscheinung wieder im Nebel verschwunden. Puhuu Jumala stand noch einige Minuten still und starrte in den Nebel bevor er sich weiter auf den Weg machte. Den ganzen Weg bis zu den Harzbäumen ließ er den Nebel auf dem See nicht mehr aus den Augen doch die Erscheinung kehrte nicht zurück.
Die Ernte war herausragend. Der Elch auf dem See hatte ihm Glück gebracht. Dicke Klumpen von gelblich weißem getrockneten Harz kratze er aus der Rinde der Bäume und dort wo er kratzte tropfte schon wieder frisches Harz aus der Rinde um für die nächste Ernte zu trocknen. Sein Beutel, ungefähr so groß wie der Euter einer Rentierkuh war prall gefüllt. So viel auf einmal. Sonst musste er mindestens drei Mal wandern um so viel Harz zu bekommen. Welch ein Glück. Das war ein Zeichen von Jumala. Er würde den nächsten Händler ausquetschen nach diesem Ding das auf dem Wasser schwimmt und versuchen selbst so etwas zu besitzen um damit den See zu den Harzbäumen zu queren. Ganz klar. Dann würde die Ernte immer so üppig sein. Das ist es was Jumala ihm sagen will.
Auf dem gesamten Rückweg hielt er Ausschau nach dem Elch doch in seinem Herzen erwartete er gar nicht die Erscheinung nochmals zu sehen. Jumalas Botschaft war überbracht es gab keinen Grund für weitere Zeichen.
Er hatte Kog den Proleta von einem der Vorsteher gebeten das Feuer in seinem Haus zu versorgen auf dem das Rentierfett warmgehalten wurde. Natürlich wusste niemand, dass Puhuu Jumala das Fett auch für seine Duftkräutertinktur brauchte. Alle dachten es wäre der Brandbeschleuniger für die Zeremonie später. Das Fett blubberte vor sich hin als er seine Hütte betrat um Kog dankend zu verabschieden und seinen Heilmantel in die Tür zu hängen um dem Dorf anzuzeigen, dass er nicht gestört werden darf. Auf einer Steinplatte zerstampfte er drei große Harzklumpen zu einem schon intensiv riechenden Pulver das er vorsichtig zu einem zweiten kleinen Kupferkessel mit heißem Fett hinzu schüttete. Der Duft in seinem Haus war jetzt betörend und jedes Mal zu diesem Zeitpunkt hatte er Furcht, dass jemand aus dem Dorf, angelockt von dem Duft, ihm auf die Schliche käme. Kräuterstrünke hatte er genug. Er betröpfelte sie sorgfältig mit der Duftmischung.
In der Wand seiner Hütte hatte er ein kleines Loch eingefügt durch das er zu allen Jahreszeiten die Mond- und Sonnenstellung erkennen konnte. Dieses Loch erlaubte ihm genau zum richtigen Zeitpunkt aus seinem Haus zu schreiten was seinen seherischen Fähigkeiten mehr Nachdruck unter der Dorfgemeinschaft verlieh. Er wusste, dass viele Herra im Dorf sich wunderten, dass er immer im genau richtigen Augenblick die Zeremonie begann während alle anderen unsicher auf dem Dorfplatz der Zeremonie entgegenfieberten. Der kurze Blick durch das Loch verriet ihm, dass er noch eine Stunde Zeit haben würde bis er mit feierlicher Miene auf den Platz treten müsste. Ruhig setzte er sich auf das Bärenfell das man ihm vor ein paar Jahren überlassen hatte und versuchte mit Jumala in Kontakt zu treten. Immer wieder kreisten seine Gedanken um die Erscheinung auf dem See. Es war zwar ein Elch den er gesehen hatte aber seine Bewegungen waren die eines Menschen der den Oberkörper nach vorne drückt und wieder zurück. Kein Elch würde sich so bewegen. Ja es sah fast so aus als würde der Elch auf seinem Hinterteil sitzen und mit den Vorderhufen wedeln. Die ganze Erscheinung dauerte ja nur wenige Augenblicke und war vom Nebel verschleiert. Was aber dann als Erscheinung übrig blieb war jedenfalls mehr als seltsam, auch für Puhuu Jumala. Die einzige mögliche Erklärung war, dass Jumala höchstpersönlich ihm erschienen war. Es gab viele Geschichten über Jumala, aber wenn er Menschen gegenübertrat dann in der Gestalt eines Elchs. Plötzlich lief es Puhuu Jumala eiskalt über den Rücken und gleichzeitig begann er zu schwitzen. Er riss die Augen auf und starrte in das Feuer über dem die Kessel baumelten. Er hatte es verbockt. Er hatte versagt. Jumala hatte versucht ihm gegenüberzutreten und er hatten nichts Besseres zu tun als zu seinem Harz zu eilen. Er würde sich das nie verzeihen. Jahrelange Gebete – umsonst. All die Opfer – umsonst. Er hatte die einmalige Chance von Jumala direkt die Erleuchtung zu erfahren, zum nächsten Level seiner Priesterschaft aufzusteigen und er hat diese Chance gegen ein paar Klumpen Harz eingetauscht. Vielleicht war das jetzt die Strafe für seine Duft Tricksereien. Er würde sich das nie verzeihen. Puhuu Jumala sprang auf und wanderte rastlos in seinem kleinen Haus umher. Was konnte er nur tun? Gab es einen Weg? Nein! Aber wenn ein unbedeutendes Bao Mädchen das im Wald mit Dämonen spricht, bei Jumala schon einen Hagelsturm auslöste was wäre dann die Folge seines persönlichen Fehlers. Am liebsten würde er sich jetzt unter sein Bärenfell verkriechen oder irgendein Höhlenloch suchen in dem er sich vor dem Zorn Jumalas verstecken konnte. Doch das ging ja nicht. Er starrte durch das Loch. Der Mond kratzte schon an der Markierung. In wenigen Minuten musste er vor die Dorfgemeinschaft treten und gelassen, souverän wirken. Wie sollte er das schaffen? Er hatte jetzt große Angst, dass Jumala ihn direkt in der Mitte des Dorfes mit einem Blitz oder Schlimmerem einfach niederstrecken würde.
Ja, er war ein Feigling. Die meiste Zeit seines Lebens musste er dem keine Bedeutung schenken, aber wenn er darüber nachdachte musste er zugeben, dass er schon immer ein echter Feigling gewesen war. Er hatte auch keine Ausrede dafür. Da war kein schlimmes Ereignis in seiner Kindheit. Nein er war schon immer einfach nur den Problemen aus dem Weg gegangen. Na klar, das tun doch viele Leute, aber Puhuu Jumala wusste genau wo die Grenze zwischen ‚Problemen aus dem Weg gehen‘ und Feigheit verlief. Ein Feigling fürchtet sich so sehr vor Schmerz, Qual und Unterdrückung, dass diese Furcht die Oberhand gewinnt über alle anderen Gefühle wie Mut, Hass, Stolz, Mitgefühl oder Ungerechtigkeit. Deshalb könnte man vor einem Feigling wie ihm einem unschuldigen Baby die Haut abziehen und er würde nur nach einem Weg suchen schnell zu entkommen. Die Schamanen Berufung war ein Segen für ihn. Er konnte alles Schlechte, auch seine eigenen Handlungen, den Dämonen in die Schuhe schieben. Dafür ließ er Jumala glänzen auch für die guten Taten die auf sein Konto gingen. So sah er es auch mit dem Duftkräuter Betrug. Er tat das zum Wohle Jumalas. Wenn die Leute ihn fragten wie es zu diesem Duft käme dann antwortete er schlicht: „Jumala ist bei uns“. Das war seine Art von Vereinbarung mit Jumala. Die Welt da draußen war hart. Menschen wurden nur dafür getötet, dass sie nicht wie alle anderen waren. Und er war von Anfang an nicht wie alle anderen, denn er hatte weder fehlende noch zu viele Gliedmaßen, keine Merkki, sondern eine gleichmäßig helle Haut. Aber er war klein, sehr klein, vielleicht etwas größer als ein halber Mann und sein Kopf wirkte komisch groß im Verhältnis zu seinem Körper. Dieses anders sein reichte aus, dass seine Mutter ihn einfach irgendwo hatte liegen lassen und es reicht allemal aus, dass man ihn nur deshalb einfach umbringen konnte. Puhuu Jumala wollte nicht sterben und als Schamane wurde zum Glück von ihm erwartet, dass er anders war. Und es war der einzige Weg seine Feigheit vor sich selbst und der Welt zu verbergen.
Doch jetzt hatte er Angst, große Angst. Er war überzeugt, dass Jumala irgendetwas mit ihm vorhatte, aber ganz gewiss nichts Gutes. Es war so weit. Der Mond war an der richtigen Stelle. Er hörte die Dorfgemeinschaft, leise murmelnd sprechen und auf ihn warten. Jetzt schlug er sich fest auf die Brust und zischte zu sich selbst: Du bist Puhuu Jumala, ‚Der mit Jumala spricht‘, jetzt geh da raus und stelle dich deinem Schicksal!“ Für einen kurzen Moment kehrte sein Mut wieder zurück, gerade so lange er brauchte um seinen Heilmantel von der Tür zu nehmen und ihn sich um seine Schultern zu legen. Mit großer Mühe griff er mit seiner rechten Hand nach dem vorbereiteten Fetttiegel und ergriff mit seiner Linken das kleine Bündel Duftkräuter bevor er vor Angst zitternd vor seine Hütte trat. Alle Augen waren auf ihn gerichtet. Der Dorfplatz war voller Herra und Proleta die eine Gasse für ihn bildeten die direkt zur vorbereiteten Opferstelle führte. Die Sonne stand noch tief und der Mond berührte gerade den Horizont hinter der großen Rentierweide. Das schummerige Licht und die Nebelschwaden die gerade mannshoch über der Erde schwebten gaben der bevorstehenden Zeremonie eine mystische Kraft. Doch nur Puhuu Jumala wusste diese Kraft richtig zu deuten. Jumala war hier. Der Nebel war sein Tarnungumhang. Dort auf der Rentierweide waren viele Geweihe schemenhaft im Nebel zu erkennen, doch er suchte nach dem typischen Elchgeweih. Langsam machte er sich auf den Weg zur Opferstätte, hoffend, dass der Heilmantel seine zitternden Knie verbarg. Niemand schien etwas zu bemerken. Alle starrten ihn voller Respekt an. Mit jedem Schritt fiel ihm der Gang leichter, die Blicke stärkten sein Selbstbewusstsein und er begann sich auf die Zeremonie zu konzentrieren. Am Steinkreis angekommen legte er bedächtig seine Mitbringsel auf den Boden und breitete ruckartig seine Arme aus was alle Versammelten augenblicklich verstummen ließ. Mit einer, auch für ihn immer wieder, überraschenden Lautstärke presste er das Lied aus seinem Körper.
O-oyoo Jumala – Höre uns Jumala - O-oyoo Jumala
Ten ting bras Shaytan Shaytan – Im inneren Körper wütet der Dämon, Dämon
Per mil ves Shaytan Shaytan – Mit unsichtbarer Kraft, Dämon, Dämon
Ka sen ka-mer Shaytan Shaytan – Schlage ihn, zerstöre ihn den, Dämon, Dämon
O-oyoo Jumala - Höre uns Jumala - O-oyoo Jumala
Ten ting bras Shaytan Shaytan – Im inneren Körper wütet der Dämon, Dämon
Per mil ves Shaytan Shaytan – Mit unsichtbarer Kraft, Dämon, Dämon
Ka sen ka-mer Shaytan Shaytan – Schlage ihn, zerstöre ihn den, Dämon, Dämon
O-oyoo Jumala - Höre uns Jumala - O-oyoo Jumala
Mit dem zweiten O-oyoo Jumala stimmte das ganze Dorf mit ein und wiederholte die Zeile wieder und wieder. Zwei Proleta eilten nun das Bao Mädchen zu holen, während Puhuu Jumala sein Duftkräuterbündel an der Stelle in der Zweigschicht platzierte an der später das Feuer entzündet werden würde. Im Schummerlicht bemerkte er ein gleich neben seiner Stelle eine kleine Kostbarkeit zwischen den Ästen. Eine kleine runde Kunststoffdose mit einem Schraubdeckel aus dem ein kurzer, dicker Faden herausstand. Es war nicht ungewöhnlich, dass Dorfbewohner eine Feueropferzeremonie dazu benutzten um ihre eigenen Geschäfte mit Jumala zu besiegeln und dafür Tierknochenketten oder kleine, aus Dreck geformte Puppen in das Feuer legten. Ganz selten kam es vor, dass er ein Schmuckstück aus Metall im Holzhaufen sah. Doch Kunststoff sah er zum ersten Mal als Opfer. Leider würde davon nichts übrig bleiben nach dem Feuer. Kurz dachte er darüber nach ob er die kostbare Dose in seinem Heilmantel verschwinden lassen sollte, verwarf aber den Gedanken sofort wieder. Die zwei Proleta schleiften das laut schluchzende Bao Mädchen heran. Resignierend ließ es sich mit einem Lederstreifen an dem oberen Ende der Eisenstange festbinden. Selbst wenn ihre Beine sie später nicht mehr tragen könnten, würde sie aufrecht an ihren Armen hängen während sie verbrannte. Puhuu Jumala begann nun den Schwanz eines Wildschweins in den Fetttiegel einzutauchen und die oberen Holzscheite damit zu bestreichen. Dieses Feuer würde gut und schnell brennen und weil er so ein guter Schamane war würden seine göttlichen Düfte den Geruch von brennendem Menschenfleisch egalisieren. Die Dorfgemeinschaft summte indessen ihr unentwegtes O-oyoo Jumala. Alles war vorbereitet. Ein Proleta reichte ihm zwei brennende Fackeln. Langsam breitete er die Arme mit den Fackeln aus und der Gesang wurde stärker, intensiver, lauter, hatte jetzt fast einen tranceartigen, beschwörenden Klang. Gefühlt im richtigen Moment stieß Puhuu Jumala die beiden Fackeln durch die oberen Holzscheite bis tief in die Schicht der Zweige, ungefähr dort wo er sein Duftbündel platziert hatte und trat fünf Schritte zurück aus dem Steinkreis. Die Holzscheite fingen sofort Feuer und die Flammen wanderten auf das Mädchen zu das sich in der Lederschlinge zu winden begann und dabei schrie wie am Spieß.
Gerade als der süße Duft begann sich auszubreiten, zischte das Feuer laut und ein dichter Rauch quoll in einer Geschwindigkeit hervor, dass in zwei Augenblicken die äußeren Steine kaum noch sichtbar waren. Kurz dachte Phuhuu Jumala, dass etwas schiefgegangen ist mit seinem Duftbündel. Hatte er es übertrieben? Doch sofort lief es ihm wieder eiskalt über den Rücken. Er wusste was es war. Jumala war hier. Um ihn zu töten.
Etwas huschte an ihm vorbei. Etwas das ein Elchgeweih trug.
Stoga suchte nach dem Rezept. Sie hatte ihren faltbaren Solarpanel optimal zur Sonne ausgerichtet und eine kleine rote Diode verriet ihr dass der Akkumulator geladen wurde. Elektrische Energie war hier oben weniger ein Problem, weil sich die Akkus sogar in der hellen Nacht aufladen ließen. Jetzt brauchte sie die Energie um an eine Information zu kommen die sie nicht auswendig kannte.
40% Salmiak (Ammoniumchlorid) – 30% Kaliumchlorat – 30% Zucker
Ein Gedanke schoss ihr durch den Kopf der ihr ein Grinsen auf ihr Gesicht zauberte. Niemand bei diesem Stamm hatte überhaupt einen Schimmer was ‚Prozent‘ bedeutete, geschweige denn ‚Ammoniumchlorid‘ oder ‚Kaliumchlorat‘. Auch Zucker kannte hier draußen niemand. Der Geschmack süß existierte nur in Form von Ahorn Sirup. Ihre Mutter hatte ihr beigebracht, dass es in der Vorzeit sogar Insekten gab die eine süße Flüssigkeit namens Honig hergestellt haben. Doch diese Insekten gab es schon lange nicht mehr. Stoga dachte nicht nur deshalb an ihre Mutter.
„Sei nicht hochmütig, Stoga.“, hatte sie oft gesagt, „Die Stämme können nichts für ihr Unwissen. Und sie haben tausendmal schlimmere Erfahrungen und Entbehrungen durchmachen müssen als wir Bao.“
An dieser Stelle musste Stoga immer daran denken, dass bei den Stämmen niemand wusste was tausend eigentlich bedeutete. Sie hatte selten jemand bei den Stämmen getroffen der weiter zählen konnte als er Finger an der Hand hatte. Und die Zahl der Finger war oft sehr unterschiedlich. Ein Mann mit einer Missbildung von besonders vielen Fingern war quasi ein Mathematikgenie. Und doch verstand Stoga genau was ihre Mutter ihr damals hatte sagen wollen. Es war nicht so, dass sie sie Stämme wirklich verachtete. Sie nahm es diesen armen Menschen nicht übel, dass sie nichts wussten, aber sie konnte einfach diese sinnlose Gewalt nicht ertragen basierend auf Aberglauben und Erklärungsnot. Angeblich hat der weise Smafo anfangs versucht sein Wissen bei den Stämmen zu verbreiten. Er hatte als junger Mann durch Zufall das Geheimnis des Wissens aus der alten Zeit entdeckt und begann Glas aus Sand herzustellen. Über die Jahre kamen immer mehr vertriebene Bao zu ihm, die ihm bei der Herstellung halfen oder als Händler das Glas zu den verschiedenen Stämmen brachten. Doch die Bao waren das geächtete Volk mit dem niemand etwas zu tun haben wollte. Als die Stämme herausfanden, dass Glas aus Sand hergestellt wurde griffen sie Smafos Siedlung an und zerstört alles. Den Bao blieb nur die Flucht oder der Tod. Für die meisten Stämme ist alles auf dem Boden oder im Boden liegende tabu, von Dämonen besetzt. Diesen Aberglauben bekamen auch immer wieder andere Händler zu spüren, wie die Sul, die Plastiksammler oder die Lame die in den Bergen nach Metall gruben um es einzuschmelzen und dann teuer zu verkaufen. Auch die Tanzi, die Gefäße aus Ton herstellten, kamen immer wieder in Erklärungsnot und dachten sich prächtige Geschichten aus woher sie den Rohstoff für die Gefäße bekommen hatten. Nur von den Yan wusste man, dass sie das Wasser des Ozeans in der Sonne trocknen ließen was dann auf magische Weise Salz hinterließ. Das wäre fast schon lustig wenn es nicht so ernst wäre denn die schwache Radioaktivität des Meerwassers wird durch den Siedeprozess quasi konzentriert. Deshalb bevorzugten die Bao das Salz aus ehemaligen Salzbergwerken. Doch den Stämmen schwelgten in ihrem Dämonenglauben und hatten massive Furcht vor allem was unter der Erdoberfläche lauerte. Manchmal wurde ein Händler gefoltert bis er die Wahrheit über die Herstellung seines Handelsgutes beichtete.
Nein die Stämme waren noch nicht so weit, zumindest die noch nicht die Stoga bisher besucht hatte. Ein anderer Rasu, ein guter Freund ihrer Mutter hatte vor einigen Jahren von einer Hajj tief in Asia erzählt, einem Inselreich, mit einem Stamm ohne Häuptling. Mit einem Rat ähnlich wie bei den Mekkanern, ohne Opfer oder Rituale. Aber das war bisher die Ausnahme. Die Stämme waren noch nicht so weit. Punkt. Und das würde sie auch in ihrem Bericht über die Finn Stämme an den Daira al Rasu so beschreiben. Der Daira war der Rat, die Regierung der Mekkaner bestehend aus zwei Vorsitzenden, den Awa Rasu die jeweils eine Stimme hatten und den 40 Rasu die zusammen die dritte Stimme bildeten. Durch dieses System war es angeblich auch unwichtig, dass jeweils immer die Hälfte der vierzig Rasu in Mekka verweilte und sich die andere Hälfte währenddessen auf einer Hajj bei den Stämmen befanden.
40% Salmiak (Ammoniumchlorid) – 30% Kaliumchlorat – 30% Zucker
Soweit so gut. Salmiak und Kaliumchlorat gehörten wie Kalk, Schwefel, Jod und Phosphat zur Standardausrüstung eines Rasu und wurden in stabilen Kunststoffbeuteln verpackt im Rucksackfutter versteckt eingenäht. Die Elemente und chemischen Verbindungen dienten genau diesem Zweck: Einsatzstoffe herzustellen mit explosiver oder verschleiernder Wirkung. Zerstören oder Verstecken. Die Trickkiste der Rasu war groß und wurde nur von dem Drang übertroffen, dass die Stämme all die Technologie niemals zu Gesicht bekämen. Das war oft schwierig. Der ganze High-Tec Kram sollte die kostbaren, über viele Jahre ausgebildeten Rasu und ihre Talaboa beschützen und gleichzeitig durfte niemand von den Stämmen davon erfahren. Theoretisch wurde von einem Rasu erwartet, dass jeder Zeuge ausnahmslos eliminiert wird. Stoga schätzte sich außerordentlich glücklich ein, dass sie bisher noch nie diesen Schritt gehen musste.
40% Salmiak (Ammoniumchlorid) – 30% Kaliumchlorat – 30% Zucker
Es war quasi eine Nebenmission der Rasu, seltene oder in Mekka nicht verfügbare Rohstoffe zu sammeln. Salmiak, Phosphat und Schwefel brachten die Rasu vom Berg Ararat der menschenleer und verlassen auf einer Rasu Route zu den Sibir Stämmen lag. Stoga hatte auf der jetzigen Hajj zu den Finn Stämmen den Auftrag nach Bernstein und Biberfellen Ausschau zu halten, aber bisher hatte sie noch keinen Händler getroffen. Theoretisch könnte sie auch Biber jagen, aber für ihre Hajj hatte sie klare Anweisungen vom Daira al Rasu sich auf ihre Suche nach einem Talaboa zu konzentrieren und nur bei Gelegenheit nach Rohstoffen Ausschau zu halten.
Der Zucker war ein Problem. Stoga hatte nur noch dreiundzwanzig Gramm übrig und war nicht sicher ob diese kleinen Menge für ihr Vorhaben ausreichen würde. Eigentlich wurde jede Hajj mit übertrieben viel Zucker ausgestattet, weil das, neben dem guten, alten Gold, als wertvolles Zahlungsmittel bei den Stämmen galt und mit ebensolchem aufgewogen wurde. Kristalliner Zucker war für die Bao viel einfacher zugreifbar als das gelbe Edelmetall. Doch die Kilos waren futsch. Stoga wusste nicht wie oder wann, sie wusste nur, dass es auf dem Weg hierher verloren gegangen sein musste. Ein wenig mulmig wurde Stoga schon bei dem Gedanken, jetzt ihren letzte Zucker einzusetzen, aber sie tröstete sich mit dem Gedanken, dass, wenn ihr Vorhaben klappt, sie sich sofort auf den Rückweg zum Schiff machen würde.
Der Anlegeplatz war rund dreihundertfünfzig Meilen südwestlich von diesem Stamm entfernt. Das konnte man in drei Wochen schaffen, wenn man es darauf anlegte, sechs Wochen, wenn man niemandem begegnen wollte. Die Landschaft hier war überwiegend der reinste Urwald den man nur mit Schwierigkeiten durchdringen konnte. Es gab zwar auch große Weideflächen die hauptsächlich von Rentierherden bevölkert waren, aber ihre Besitzer wohnten meist direkt nebenan in einem Dorf im Wald. Die Reise würde also hauptsächlich auf dem Wasser stattfinden.
Nur wenige Meilen südlich von hier begann schon das Pa-aya-shaytan, das Dämonenland. Wie Stoga wusste wie diese Zonen entstanden sind und für Jahrhunderte so überliefert wurden. Je südlicher man ging desto mehr nahm die Radioaktivität und damit die Strahlenkrankheit zu. Die Stämme mieden diese Zonen wie die Pest. Die Grenze war eigentlich gut erkennbar, zumindest wenn die Stämme in der Nähe siedelten. Alle paar Meter thronten bunt bemalte, mit Federn und kleinen Knochen behängte Rentierschädel auf Holzpfählen und warnten davor hier weiterzugehen. Völlig unnötig, denn schon als sie selbst noch eine Talaboa war hatte Stoga gelernt, dass das auf der Erde durch Fallout und Asche verbreitete Cäsium137 eine Halbwertzeit von weniger als 30 Jahren hat. Nach mittlerweile 65 Halbwertzyklen war die Cäsium137 Belastung weltweit, selbst mitten in den auslösenden Bombenkratern, wieder auf einem Normalwert. Auch wenn die Stämme nach wie vor das Dämonenland mieden gab es eine zunehmende Anzahl von Menschen, Ausgestoßene, ehemalige Sklaven oder Verurteilte, die nichts zu verlieren hatten und die Dämonengrenze einfach passierten und feststellten, dass sie nicht von den Shaytan zerfetzt wurden. Aber sie waren scheu, mieden einander und jeden anderen Kontakt und verbargen sich im undurchdringlichen Urwald. Aber das Land hier war durchzogen von tausenden kleinen Seen die alle irgendwie miteinander verbunden waren. Tatsache war, dass Stoga nur sechs Mal ihr Kanu komplett leeren und die einzelnen Teile der Ausrüstung und das Kanu portionsweise über Land tragen musste. Davon vier Mal nur wenige Meter über einen ‚Dämonentempel‘, wie die Stämme sagten. Stoga wusste, dass es sich um die Betonmauern einer Wasserschleuse aus der alten Zeit handelte. Stoga tippte darauf, dass bei einem der zwei längeren Strecken zwischen zwei Seen das Paket mit dem Zucker von einem der scheuen Ausgestoßenen gestohlen wurde. Warum sie es nicht gleich bemerkt hatte blieb ein Rätsel.
Wiederwillig holte Stoga die letzten paar Gramm des Zuckers aus der Ledertasche in der alle Kochutensilien, Geschirr, Salz, Gewürze und eben auch der Kochzucker untergebracht waren. Vorsichtig, um nichts zu verschütten, gab sie den Zucker zu den dreiundzwanzig Gramm Kaliumchloratpulver in den kleinen Küchenmörser und zerstieß beides zu einem gleichmäßig feinen Pulver. Dann mengte sie mit Bedacht exakt 30,6 Gramm pulverisierten Salmiak bei und schüttete das Gemisch auf ein Stück feines Papier dessen Enden sie nach oben zusammenführte damit ein keiner Pulverbeutel entstand. Zuvor hatte sie eine kurze Lunte hergestellt indem sie Schießpulver in feinem Papier ganz dünn einrollte, an einem Ende einen kleinen Schießpulversack als Zünder formte und das Ganze mit warmem Harz sauber verklebte. Diese Zündschnur platzierte sie jetzt mit dem dicken Ende in dem Pulvergemisch und band das Papiersäckchen um die Zündschnur herum mit einem Faden zu. Jetzt suchte sie ein Gefäß, groß genug für das Papiersäckchen, aber nicht zu groß damit die Kompression ausreichend war. Eine kleine Kunststoffdose in der bisher Oregano aufbewahrt wurde, war schnell geleert. Stoga drehte mit der Messerspitze viele Löcher in die Dose und in den Deckel nur ein kleines in der Mitte durch das sie die Zündschnur steckte bevor sie die kleine Dose mit dem Pulversack darin sorgfältig verschraubte.
Die Sonne stand schon sehr tief. Mitternacht war vorüber. Stoga beeilte sich ihr Gesicht und ihre Arme mit grünbraunem Schlamm einzureiben um ihre menschliche Hautfarbe völlig unkenntlich zu machen. Heute Nacht würde sie ein Gott sein. Schon kurz nachdem sie das Schiff verlassen hatten half Falout ihr sich ein Gotteskostüm als mögliche Tarnung zu bauen. Falout hatte schon zwei Hajj in dieser Gegend unternommen und kannte sich aus mit den Finn Stämmen. Also erklärte er ihr, dass der wichtigste Finn Gott Jumala sich angeblich nur in Elchgestalt den Menschen zeigte. Und dieser Aberglaube konnte in bestimmten Situationen außerordentlich nützlich sein. Deshalb übernahm Stoga die Aufgabe einen Elch zu schießen, das Fell von allen Rückständen zu reinigen und daraus zwei Umhänge mit Kapuzen zu fertigen. Das Elchfleisch schnitt sie in Streifen die sie im Rauch haltbar machte. Eine angenehme Wegzehrung für zwischendurch. Doch viel zu viel. Deshalb lagerten sie einen Großteil in der Nähe der Anlegestelle. Dann mussten sie weniger jagen während sie auf das Schiff warteten. Falout schnitzte die Elchgeweihattrappen aus weichem Kiefernholz. Ein echtes Elchgeweih wog gut und gerne zwanzig, dreißig Kilo. Viel zu schwer für ein Kostüm das die Stämme täuschen sollte. Stoga sah abenteuerlich aus. Den großen Fellumhang hatte sie um Brust und Bauch fest verzurrt. Über der Kapuze trohnte ein mittelprächtiges Elchgeweih. Ihre verschlammten Arme hatte sie durch Seitenschlitze im Fell nach außen gesteckt. Das Gesamtkunstwerk war eine wilde Mischung aus grünbraunem Fell und Schlamm – Ein dürrer Elch der sich aus einem Schlammloch retten konnte. Natürlich sah man sofort, dass dies kein Elch sein konnte. Stoga hoffte inständig, dass Falout recht damit hatte, dass furchtsame Phantasie und tiefe Religiösität den Gott Jumala in ihr entstehen ließen.
In dem Kostüm mit dem Kanu den See zu überqueren war eine Herausforderung. Das Holzgeweih wackelte wild auf ihrem Kopf bei jedem Ruderschlag. Sie beugte den Oberkörper nach vorne und konzentrierte sich auf das Rudern während sie ihren Blick den Fellstücken zuwandte, die sie um ihre Stiefel gewickelt hatte. Ausschau zu halten war sowieso zwecklos, denn sie war von einer flachen Nebelbank umgeben. Nur ab und zu schaute sie zum Himmel um sich zu orientieren und zu vermeiden, dass sie im Kreis fuhr. Das gegenüberliegende Ufer würde sie eben erspüren müssen. Es kam ihr wie eine Ewigkeit vor und gerade als sie begann zu zweifeln ob dieser eine Stern tatsächlich in ihrer Richtung lag und nicht die lange Seite des Sees hinunter, erkannte sie Äste und Blätter über sich. Ein Ruderschlag später wurde das Kanu abrupt gestoppt und das Seeufer erschien blass im Nebel. Stoga orientierte sich und suchte eilig nach einem größeren Busch am Ufer in dem sie das Kanu verstecken könnte. Nachdem ihr das endlich gelungen war markierte sie den Busch mit drei aufeinandergelegten Steinen davor. Stoga eilte in Richtung Dorf. Sie rechnete zwar nicht mit Dorfbewohnern um diese Zeit zumal sicher alle schliefen weil die Zeremonie sehr früh beginnen würde, doch trotzdem bleib sie auf der Hut je näher sie dem Dorf kam. Immer wieder blickte sie zurück um sich den Weg durch den Wald einzuprägen. Der Rückweg musste sehr schnell gehen und sie konnte sich nicht leisten das Kanu suchen zu müssen. An drei zweifelhaften Stellen machte sie weitere Markierungen mit gestapelten Steinen. Schließlich erreichte sie ein gutes Versteck bei einem Holzstapel der sie verdeckte. Von hier aus konnte sie den gesamten Dorfplatz gut einsehen. Sie erkannte die vorbereitete Opferstätte, ihr Ziel. Stoga wartete zehn Minuten und nichts rührte sich. Nach weiteren zehn Minuten war sie relativ sicher, dass hier keine Wachen patrouillierten. Es schien gar keine Wachen zu geben oder vielleicht nur in der Hütte in der sie das arme Mädchen festhielten. Warum auch. Stoga fasste sich ein Herz, glitt im Schatten einer Hauswand weiter auf das Dorfzentrum zu, verharrte an der Ecke, schaute sich ein letztes Mal um und sprang dann flink zu dem Scheiterhaufen, steckte die Kunststoffdose zwischen die Holzscheite und eilte aus dem Schummerlicht der tief stehenden Sonne in den Schatten zurück. Das war geschafft.
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